„Was dürfen wir von Kunst und Kultur erwarten?“

Eröffnung der 90. Ludwigsburger Schlossfestspiele
Ludwigsburg, 5. Mai 2022



Es ist schön, die Ludwigsburger Schlossfestspiele nun endlich leibhaftig und gemeinsam zu erleben statt nur auf dem Bildschirm. Zugleich werden viele von Ihnen – wie auch ich – die bohrende Frage spüren: Geht das eigentlich – ein Konzert genießen, während Russlands Präsident Putin in der Ukraine einen durch nichts zu rechtfertigenden, menschenverachtenden Eroberungskrieg führt? Während Tausende verwundet, vergewaltigt, getötet werden; Millionen hungern oder fliehen? „Was sind das für Zeiten“, hat Bert Brecht einst gefragt, „in denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“?
Nun, die Ludwigsburger Schlossfestspiele schweigen nicht. Bewusst stellen sie die heutige Festspiel-Ouvertüre unter das Motto „No more war“. Aber was können Kunst und Kultur – im Angesicht des Krieges zumal? Was dürfen wir von Musik erwarten?
Zunächst einmal, und trotz allem: Erbauung. Gerade weil wir so wund werden von den vielen Krisen unserer Zeit, sind die Momente kostbar, in denen wir uns berühren, erschüttern oder auch trösten lassen von Musik. Momente, in denen die Wirklichkeit zurücktritt und sich die Räume des Möglichen öffnen. Momente der Hoffnung, dass der Mensch nicht nur zu Zerstörung, sondern auch zu großartigen Schöpfungen in der Lage ist. Und wenn das Kyiv Classic Orchestra auf dem Maidan spielt, eine Geigerin im Bunker von Charkiw oder eine Blaskapelle in den Straßen Odessas, dann ist das auch ein Akt des Widerstands und des Lebenswillens inmitten des Krieges.
Instrumentalisieren sollten wir die Musik aber nicht. Sie taugt nicht als Mittel zum Zweck – auch nicht zum guten Zweck. Sie kann Momente der Verständigung über Grenzen hinweg erzeugen. Doch die Gewalt des Kriegs in der Ukraine kann sie nicht stoppen. Dieser Krieg übertönt jetzt alles. Es ist ein Eroberungskrieg. Russland verstößt damit gegen das Völkerrecht. Der weitere Kriegsverlauf wird über die Zukunft der Demokratie und Selbstbestimmung in Europa (und darüber hinaus) entscheiden. Auch Deutschland ist zwingend aufgefordert, mit allen seinen Möglichkeiten dazu beizutragen, dass sich die Ukraine verteidigen und die Integrität ihrer Staatsgrenzen schützen kann.
Zugleich dürfen wir uns bei der Abwehr des russischen Eroberungskrieges nicht zum Schwarz-weiß-Denken verleiten lassen. Kunst gehört nicht in nationale Schubladen. Sie sollte nicht in politische Geiselhaft genommen werden. Die pauschale Verbannung von allem Russischen aus den Konzertsälen oder von den Bühnen, aus Bücherregalen oder Ausstellungen halte ich für den falschen Weg. Nicht Herkunft, sondern Haltung einzelner Künstlerinnen und Künstler und die Umstände einer Aufführung sollten den Ausschlag geben.
Mit ihrer Entscheidung, heute Abend Mahler und nicht Tschaikowsky zu spielen, schützen die Festspiele ihre ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv vor dem Druck all jener, die in diesen Tagen die Aufführung russischer Komponisten als unzumutbar empfinden. Diese Entscheidung halte ich für richtig, zumal die Festspiele klargemacht haben, dass sie sehr wohl noch russische Komponisten spielen werden. Und es ist gut, dass sie noch in dieser Saison auch noch mit anderen Kulturinstitutionen einen Diskurs über die Rolle von Kultur in Zeiten des Krieges führen wollen. Oksana Lyniv selbst hat dazu in einem Interview gesagt: „Politik ist von der Kunst nicht zu trennen. Wir spielen in keiner Blase des Schönen, wir stehen mitten im Leben. Denn nur dann entsteht auch gute, also wahrhaftige Kunst.“
Ich selbst hatte mich ehrlich gesagt auf das Eröffnungskonzert auch deshalb gefreut, weil Tschaikowsky einer meiner Lieblingskomponisten ist. Und das wird sicherlich so bleiben. Tschaikowskys Werke gehören für mich – wie die Werke vieler anderer russischer Künstler – zum Weltkulturerbe. Dieses zu erhalten und zu pflegen (also spielen), ist angewandte, langfristige Friedenspolitik.
Die Grundlagen für Frieden in der Welt zu stärken, ist auch das Ziel der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Ich freue mich, lieber Jochen Sandig, dass Sie Ihr Programm mit dieser globalen Transformations-Agenda verbunden haben und die Ludwigsburger Schlossfestspiele zu einem „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“ machen wollen.
Die Agenda 2030 (ich trage das Logo hier an meinem Revers) wurde 2015 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen von den Staats- und Regierungschefs der Welt beschlossen. Sie ist der Gegenentwurf zu einer Welt der reinen Machtpolitik und nationalen Egoismen. Ihre 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung sind Wegweiser für eine Politik, in der alle Nationen der Erde zusammenarbeiten mit dem Anspruch, auch allen Menschen der Erde ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Aber – ist das nicht naive Träumerei? Kann man in Zeiten, in denen internationales Recht schamlos gebrochen wird, auf Zusammenarbeit unter den Völkern hoffen? Ich glaube: Man darf und kann nicht nur, man muss sogar. Die Agenda 2030 ist kein naiver Idealismus, sondern wahre Realpolitik, weil wir anders die immensen Herausforderungen auf unserem Planeten – Armut, Klimawandel, Artensterben – gar nicht werden lösen können. Auch die Russische Föderation hat dieser Agenda in der Generalversammlung der Vereinten Nationen zugestimmt. Ich möchte deshalb Präsident Putin von hier aus zurufen: „Herr Präsident, kommen Sie zurück zu Russlands Zustimmung zur Agenda 2030 und damit auch zu Russlands herausgehobener Verantwortung als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für Frieden in der Welt! Setzen Sie sich bitte mit Präsident Wolodymyr Selensky und UN-Generalsekretär Antonio Guterres an einen Runden Tisch, um den Krieg zu stoppen und den Wiederaufbau zu besprechen. Die Fortsetzung des Krieges kann nur beide Völker und die Staatengemeinschaft insgesamt zu Verlierern machen.“
Meine Damen und Herren, vor 60 Jahren, 1962, geschah etwas Unerwartetes vor dem Ludwigsburger Schloss – ich erinnere mich gut daran, weil ich als Jugendlicher selbst dabei war. In seiner „Rede an die deutsche Jugend“ machte Frankreichs Präsident Charles de Gaulle uns, den Nachkommen des einstigen Erbfeindes, in Deutsch das Angebot der Freundschaft – und forderte uns auf, auf diesem Grundstein die Einheit Europas zu errichten. Das begründete eine Zeitenwende im Verhältnis von Deutschland und Frankreich nach dem 2. Weltkrieg und bleibt ein Fundament für eine gute Zukunft Europas.
Heute stehen wir erneut vor einer Zeitenwende. Sie ist durch den russischen Angriff auf die Ukraine noch offensichtlicher geworden. Die Europäische Union ist in ihrer Wehrhaftigkeit gefordert. Aber darüber hinaus auch in ihrer Entschlossenheit, das fossile Zeitalter zu überwinden und so zugleich die künftigen Grundlagen von Frieden und Freiheit zu sichern. Diese neue Große Transformation wird uns allen Veränderungsbereitschaft abverlangen. Unser Lebensstil wird sich ändern müssen. Kunst und Kultur können bei den dafür nötigen gemeinsamen Lern- und Suchprozessen inspirieren – und bei der großen Frage, was unserem Leben eigentlich Sinn gibt. Die Schlossfestspiele stellen uns alle mit ihrem Programm bewusst in diesen großen Zusammenhang. Ich habe gemeinsam mit meiner Frau gern die Schirmherrschaft übernommen.
Lassen wir uns nicht lähmen von der Vielzahl der Krisen. Machen wir uns bewusst, dass wir unsere Sehnsucht nach Stabilität versöhnen müssen mit dem Mut zu Veränderungen. Und gönnen wir uns die Momente mit der Musik und der Kunst allgemein. Sie sind wichtig. Danke, Jochen Sandig und dem Team der Ludwigsburger Schlossfestspiele, für ihre Sensibilität und Ihr Engagement. Danke, Oksana Lyniv, dass Sie heute hier sind. Uns allen wünsche ich ein bewegendes Festival!