Von der Kunst, die Welt in anderes Licht zu rücken

Verleihung des Georg-Meistermann-Preises 2023 der Stiftung Stadt Wittlich an Wolfgang Niedecken
Wittlich, 23. November 2023



Einfach nur Licht ins Dunkel zu bringen, ist keine Kunst. Aber Licht durch das Material Glas und überlegte Linienführung so zu lenken, dass es Farben zum Leben erweckt, dass es Stimmungen schafft und Räumen eine zusätzliche Dimension verleiht, das ist eine Kunst.
Georg Meistermann beherrschte sie. Und auch der Preisträger des heutigen Abends weiß ein Lied, oder besser: ein ganzes Album, von dieser Kunst zu singen. Es geht um nicht weniger als die Kunst, die Welt und unser Leben in anderes Licht und anderes Bewusstsein zu rücken. Geschehen mag dies, indem Töne Gefühle in uns wachrufen oder Worte neue Perspektiven zeigen, indem Licht mal heller und mal dunkler in unser Leben fällt, indem manch Gutes in uns zum Klingen und manch Böses zum Verstummen gebracht wird, indem wir neu zu hören oder anders zu sehen lernen.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich heute Abend die Laudatio auf Wolfgang Niedecken halten darf, den ich schon seit vielen Jahren kenne und schätze: als einen, der den Mund auftut und frei heraus sagt und singt, was er denkt und was er fühlt. Mit ihm ehrt die Stiftung Stadt Wittlich heute nicht allein einen talentierten Maler und einen herausragenden Musiker, Gründungsmitglied und Frontmann von BAP, einer der erfolgreichsten deutschen Rockbands, sondern auch und vor allem eine Persönlichkeit, die in ihrem Leben stets mit Rückgrat und Courage für die Werte unserer freiheitlichen Demokratie eingetreten ist, die Haltung zeigt, wo es Not tut und für die Verantwortung keine bloße Worthülse ist.
In dieser Hinsicht bewegt sich Wolfgang Niedecken mit seinem künstlerischen Schaffen und seinem kritischen Zeitgeist in den Spuren des Malers, Zeichners und Graphikers Georg Meistermann. Und wer die Lebenslinien beider vergleicht, muss nicht lange suchen, um Parallelen und Überschneidungen zu entdecken.
Beide studierten sie Malerei: der eine Anfang der 1930er Jahre an der Düsseldorfer Kunstakademie, der andere 40 Jahre später an den Kölner Werkschulen.
Für beide ist bzw. war Köln das Zentrum des kreativen Schaffens: der eine fand dort ab 1949 seinen Wohn- und Arbeitsort, der andere wurde in der Kölner Südstadt geboren und ist seiner Heimatstadt bis heute treu geblieben.
Beide haben sie sich mit der katholischen Kirche auseinandergesetzt oder an ihr abgearbeitet: Meistermann sagte einmal: „Der Mensch braucht die Forderung. Und der Glaube ist ja wohl eine Herausforderung!“ , Niedecken bezeichnet sich als „Restkatholik“.
Und beide eint der Glaube an eine bessere, eine humanere Welt.
Weder der eine noch der andere hat sich sonderlich um Auszeichnungen bemüht. „Rock isn’t about getting an A“, heißt es in einem Film. Dem stimmt Wolfgang Niedecken bestimmt zu und Meistermann hätte diesem Urteil mit Blick auf die bildende Kunst gewiss auch nicht widersprochen. Ob Musik, Malerei oder Glaskunst: allesamt gehen sie nicht gänzlich in der Kategorie des Ästhetischen auf. Es geht nicht nur darum, anderen zu gefallen. In ihrer erfrischend unangepassten Art ähneln sich Meistermann und Niedecken. Und ebenso darin, nicht von allen verstanden zu werden: Die einen begreifen Meistermanns abstrakte Kunst nicht, andere verstehen kein Wort Kölsch, oder um genauer zu sein: die „Mischung aus Gebirgsrheinisch, Eifeler Platt und Südstadt-Kölsch“. Und so ist es oft mit guter Kunst: Die einen verstehen sie nicht, andere hingegen fühlen sich überhaupt erst durch Kunst verstanden.
In der Sprache von Niedeckens Songtexten ist die Verbundenheit mit seiner Kölner Heimat greifbar. Wolfgang Niedecken steht zu seinen Wurzeln. Seine Mutter, die übrigens die Tochter eines Kirchenmalers war, förderte sein kreatives Talent. Dem Vater, von Niedecken „Bapp“ genannt, verdankt die 1976 gegründete Band BAP ihren Namen. Als Kind zeichnete Wolfgang Niedecken gern. Die Leidenschaft für die Musik entfachten erst die Beatles. Da war er zwölf und zum Glück hörte er schon bald darauf die Rolling Stones und fand durch sie zum Rock.
Im Jahr 1967 veränderte sich Wolfgang Niedeckens Leben. Das lag nicht daran, dass in jenem Jahr Georg Meistermann Präsident des Deutschen Künstlerbunds wurde, sondern daran, dass seine Mutter ihm seine erste elektrische Gitarre schenkte. Von da an wollte unser Preisträger, wie er später einmal schrieb, mit seiner Gitarre „der Welt zu Leibe rücken und dabei versuchen, sie in einen aufregenderen Ort zu verwandeln.“ – Ich glaube, das ist ihm ganz gut gelungen.
Seine musikalische Karriere im Einzelnen nachzuzeichnen würde diese Laudatio sprengen. Ich darf mich daher darauf beschränken, an ein Lied Niedeckens zu erinnern, dass seinen kometenhaften Aufstieg mit allen Ups and Downs zwischendrin in Wort und Melodie fasst: „Et Levve ess en Autobahn“. Anfangs führten Niedeckens Wege mit BAP kaum über Köln hinaus. 1979 ging es immerhin bis Wuppertal, bald darauf dann eroberte Niedecken mit BAP die Bühnen von Prüm bis West-Berlin. Auch die Nachbarländer waren schließlich vor dem Kölschrock nicht mehr sicher, und selbst der Eiserne Vorhang vermochte BAP nicht zu stoppen: 1987 tourte die Band vier Wochen durch die Volksrepublik China, im Mai 1989 gab BAP Konzerte in Moskau und Wolgograd. Da waren Glasnost und Perestroika, da war Gorbatschows Reformprozess greifbar. Ein halbes Jahr später fiel dann die Mauer in Berlin.Die Zeit, in denen jedes Kind die Melodie der Scorpions von „Wind of Change“ zu pfeifen wusste, galt und gilt bis heute vielen als Wendezeit. – „Wendezeit“ und „Zeitenwende“: Die Begriffe sind sich so ähnlich, doch die geopolitische Lage von damals und heute ist grundverschieden. 1989/90 blickten viele, auch ich, voller Zuversicht und Hoffnung in die Zukunft. Freiheit und Demokratie lagen irgendwie überall in der Luft.
Die „Zeitenwende“ unserer Tage, nach dem 24. Februar des vergangenen Jahres und dem 7. Oktober 2023, steht unter ganz anderen Vorzeichen: Nationalismus und neuer Imperialismus, Krieg und Terror bestimmen die Nachrichtenlage und die Gefahr besteht, dass sich die Welt wieder in antagonistische Blöcke spaltet.
Doch die Weltgemeinschaft wird die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur meistern können, wenn sie Abschottung und Appeasement eine Absage erteilt und beharrlich auf Kooperation und Miteinander setzt. Bob Dylan, ein großes Vorbild von Wolfgang Niedecken, dichtete 1964 in dem Song „The Times They Are A-Changing“: „And admit that the waters around you have grown.“ Angesichts des Klimawandels steht heute schon vielen buchstäblich das Wasser bis zum Hals und wir alle werden mit den Folgen der globalen Erwärmung zu kämpfen haben. Darum müssen die Völker dieser Welt miteinander statt gegeneinander arbeiten.
2015 hat die Weltgemeinschaft mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen Ziele für eine wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung vereinbart. Wir brauchen diese Große Transformation, die unseren Planeten bewahren und allen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen will. Sie ist eine Zukunftsaufgabe für alle Staaten und zum Nutzen aller Völker. Und um es mit den Worten Wolfgang Niedeckens zu sagen: „Wir haben global zu denken und lokal zu handeln, wenn wir unseren Kindern und Enkeln eine lebenswerte Welt hinterlassen wollen.“
Der ungebrochene Optimismus, den viele in unserem Land 1989/90 erlebten, verflog rasch mit dem Erkennen großer Umbrüche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In Deutschland wurden die Orte Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen oder Hoyerswerda zum Fanal für neuen Fremdenhass und Rassismus.
„Verdamp lang her“, mögen einige denken. Aber leider haben Rassismus, religiöse Diskriminierung, Homophobie, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit noch immer an vielen Orten unserer Welt Konjunktur. In unserem Land hat sich in den letzten Wochen ein Antisemitismus gezeigt, von dem manche dachten, dass er schon längst überwunden sei. Doch nein: Zivilcourage bleibt gefragt!
„Arsch huh, Zäng ussenander“ – Diesen deutlichen Appell muss ich hier nicht übersetzen. Er ist das Motto einer 1992 von Künstlern und Kulturschaffenden in Köln entwickelten Kampagne gegen rechte Gewalt. Wolfgang Niedecken und BAP haben diese Kampagne von Beginn an mit Herz und Hand unterstützt und waren stets ganz vorne mit dabei. Statt feige wegzuschauen, braucht es Mut zum Widerstand gegen rechte Parolen und Gewalt. Das war die Botschaft des im November 1992 gegebenen Konzerts von BAP und vielen anderen. Zehntausende, einige Quellen sprechen gar von 100.000 Menschen, die sich damals dicht an dicht auf dem Kölner Chlodwigplatz drängten und damit zeigten: Wir stehen zusammen – gegen Rechts.
Wer Wolfgang Niedeckens Werdegang kennt, weiß, dass sein Engagement gegen Fremdenhass und rechte Gewalt damals schon eine lange Vorgeschichte hatte. Geradezu prophetisch lesen sich die ebenso ausdrucksstarken wie politischen Verse, die er zehn Jahre zuvor, 1982, für den Song „Kristallnaach“ schrieb. Eine Warnung vor dem fürs Jüngste Gericht probenden Lynch-Mob. Ein Song, der zur Wachsamkeit ruft und uns fragen lässt: Hören wir das Klirren und Irren in unseren Tagen?
Für seinen Einsatz gegen Fremdenhass und Rassismus wurde Wolfgang Niedecken bereits 1998 mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Vor zehn Jahren verlieh ihm Bundespräsident Joachim Gauck das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für sein herausragendes Engagement in Afrika. Damals würdigte Joachim Gauck Wolfgang Niedecken als „einen Mann […], der nicht nur Dur und Moll beherrscht, sondern auch mit Dissonanzen in dieser Welt umzugehen weiß.“ – Diesem Urteil kann ich nur zustimmen. Wolfgang Niedecken weiß mit den Dissonanzen in dieser Welt umzugehen, indem er sich ihnen zunächst stellt und sie aushält, sich aber nie einfach mit ihnen abfindet. Das Bedrückende, Deprimierende, Grausame, was er gehört und gesehen hat, arbeitet in ihm. Und am Ende steht ein Songtext, der nach Worten für das sucht, was vielleicht gar nicht so recht sagbar ist. „Noh Gulu“ (Nach Gulu), heißt der Song, in dem Wolfgang Niedecken seine Hörerinnen und Hörer an seiner ersten Reise nach Norduganda teilhaben lässt. Die dortige Begegnung mit ehemaligen Kindersoldaten hat ihn zutiefst bewegt. Ihr Schicksal lässt keinen kalt: Junge Menschen, einst zu unfassbarer Brutalität gezwungen, mit Bildern von Krieg und exzessiver Gewalt im Kopf, die sie nie wieder loswerden. Junge Menschen, verwundet an Leib und Seele, nicht selten heimatlos, ohne Familie, ohne Freundeskreis, zur Prostitution gezwungen, zur Straßenkriminalität verdammt, um irgendwie zu überleben. Der Song „Noh Gulu“ erzählt von ihnen. Dieses Erzählen, dieses Story-Telling, das sich Wolfgang Niedecken von seinem großen Vorbild Bob Dylan abschaute, macht seine Songs aus. Es gibt ihnen Authentizität und Wirkung.
Übrigens: Nach Norduganda kam Wolfang Niedecken mit seinem Sohn Robin 2004 als Sonderbotschafter der Aktion „Gemeinsam für Afrika“, einem Bündnis von Hilfsorganisationen, für das ich damals als Bundespräsident sehr gern die Schirmherrschaft übernommen habe. Ziel der Kampagne war es, in Deutschland auf die Sorgen und Nöte Afrikas, aber auch auf Vielfalt, Chancen und Potenziale unseres Nachbarkontinents aufmerksam zu machen.
Über die Kampagne „Gemeinsam für Afrika“ lernten wir uns kennen. Wolfgang Niedecken war für sie ein exzellenter Botschafter. Denn wer von seinen Eindrücken aus Norduganda erzählen hört, wird ergriffen, kommt ins Denken, ändert sein Bewusstsein. Doch Niedecken will mehr als nur unser Bewusstsein verändern. Immer wieder habe ich bei gemeinsamen Begegnungen seine Ungeduld gespürt: So kann es doch nicht weitergehen! Es muss sich was tun! – Ich denke an meinen Staatsbesuch in Nigeria vor ziemlich genau 15 Jahren, im November 2008. Damals begleitete mich Wolfgang Niedecken. Er diskutierte eigenwillig und engagiert mit und griff dabei auch beherzt zur Gitarre, um seinen Erzählungen auch damit Gehör zu verschaffen. Beeindruckt hat mich, wie er mit dem nigerianischen Percussionisten Happinex zu einer gemeinsamen Musiksprache fand. Beide brachten je ihren Stil ein und daraus erwuchs etwas Neues, Unbekanntes, Wunderbares. Wie Dialog mit Afrika gelingt, weißt du, lieber Wolfgang, und ich danke dir, dass du Eva und mich mehr als einmal darin unterstützt hast.
Dein Engagement für Afrika geht weit über das Erzählen von diesem Kontinent durch Text und Melodie hinaus. Du bist viel zu ungeduldig, um Politikrhetorik zu vertrauen. Du willst heute schon die Welt zu einem besseren Ort machen.
„Rebound“ heißt das Projekt, das Wolfgang Niedecken gemeinsam mit World Vision zum Erfolg geführt hat. Es eröffnet Jugendlichen aus Norduganda und dem Ostkongo, die in ihren jungen Jahren schon viel zu viel Krieg und Gewalt erlebt haben, den Weg in ein neues und gewaltfreies Leben. An den Standorten von Rebound finden die jungen Menschen Schlafsäle, Bildungs- und Ausbildungsangebote, Werkstätten, psychosoziale Begleitung – und Erwachsene, die sie nicht ausbeuten, sondern unterstützen wollen. Rebound gibt den Jugendlichen Sicherheit und Perspektive. Beides brauchen sie.
Von Singles behauptet Wolfgang Niedecken, dass sie „zum schnellen Verzehr bestimmt“ seien. Er ist kein Freund der Singles, sondern der Alben. 23 Studioalben hat BAP schon herausgebracht. Eine Bilanz, die von langfristigem und nachhaltigem Erfolg zeugt. Und ebenso steht es um Wolfgang Niedeckens Einsatz für Afrika. Sein Engagement für die Jugendlichen in Uganda und im Kongo passt auf keine Single. Es füllt ein Album.
Meine Damen und Herren, bitte sehen Sie mir nach, dass mein Porträt des Preisträgers heute Abend unvollständig bleibt. Es gäbe noch so viel mehr über ihn zu erzählen. Neben dem Kampf gegen rechte Gewalt und seinem Engagement für Afrikas Jugend wäre auch an seine klaren Worte zu Kindesmissbrauch oder seine Haltung zur Atomkraft zu erinnern. Ich aber belasse es heute – ganz in der Tradition Georg Meistermanns – bei einigen „Farbige[n] Notizen zu einer Biographie“. Und ich hoffe, dass diese Biographie noch um manche Farben und um viele Jahre reicher wird. Aber mit deiner Frau Tina als Schutzengel an der Seite kann es eigentlich gar nicht anders werden. Lieber Wolfgang, werde „ahl“, aber nicht „aalglatt“!
Dein Eintreten für Demokratie, Mitmenschlichkeit und Fairness ist beispielhaft. Deine unverwechselbare Stimme hat im polyphonen Chor der Meinungen in unserem Land einen festen Platz. Du stehst für ein weltoffenes und empathisches Deutschland und hast dich um unser Land verdient gemacht.
Mit Recht ehrt dich die Stiftung Stadt Wittlich mit dem Georg-Meistermann-Preis 2023, zu dem ich dir von Herzen gratuliere.