Dem Streben nach Gerechtigkeit neue Glaubwürdigkeit geben

Impulsvortrag auf dem Podium ‚Unbezahlbare Gerechtigkeit‘
Katholikentag Regensburg, 31. Mai 2014



I.

Als siebtes von acht Kindern habe ich nach mancher Gerechtigkeitsdiskussion am Essenstisch gemerkt: Es liegt im Wesen des Menschen, dass er sehr viel besser erkennen kann, was ungerecht ist, als beschreiben, was gerecht ist. Erlauben Sie mir deshalb einige Beobachtungen darüber, was ungerecht ist:

Wenn am heutigen 31. Mai zwei Kinder geboren werden, und das eine Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:6 seinen 5. Geburtstag nicht erleben wird, das andere Kind eine Überlebenswahrscheinlichkeit von über 99% hat, und der einzige Unterschied zwischen den Kindern ist, dass das eine im Tschad, und das andere in Deutschland auf die Welt kommt – das ist ungerecht. Dass wir in Deutschland pro Kopf und Jahr 11 Tonnen Kohlendioxyd ausstoßen, obwohl – auf die Weltbevölkerung bezogen – jeder Erdenbürger theoretisch nur ein Budget von 2 Tonnen hat, wenn man die Klimakatastrophe und den Anstieg des Meeresspiegels verhindern will – das ist ungerecht. Dass der Westen erst Bomben auf Libyen wirft und dann die europäischen Außengrenzen verstärkt werden, damit die Flüchtlinge, die in der Folge der massiven Instabilität in der ganzen Sahel-Zone bei uns Schutz suchen, an der Einreise gehindert werden – das ist ungerecht.

Heute, wo mein berufliches Leben hinter mir liegt und ich um einige Gerechtigkeitserfahrung reicher bin, will ich aber gern auch darüber sprechen, wie wir im internationalen Bereich Gerechtigkeit näherkommen können und welche Rolle Entwicklungsfinanzierung dabei spielt. Bevor ich darauf eingehe, stellt mich die Frage nach Gerechtigkeit aber vor zwei große Herausforderungen, die ich Ihnen kurz vorstellen möchte: einmal als politischer Mensch und einmal als Christ.

Als politischer Mensch merke ich, wie sehr uns diese Welt der rasanten Veränderung, in der wir im 21. Jahrhundert leben, auch zu einem neuen Nachdenken über Gerechtigkeit zwingt, nicht als philosophische Spielerei, sondern als unbedingte politische Notwendigkeit. Denn eine ökologisch und sozial gerechtere Welt ist bei einer Bevölkerungszahl von heute 7,5 Milliarden und 2050 9,5 Milliarden Menschen zur Überlebensbedingung der Menschheit geworden. Der Aufstieg der globalen Mittelschicht, ein Hauptmotor für Entwicklung weltweit, bringt den Planeten an den Rand des Kollapses, wenn er nach dem alten Wachstumsmuster verläuft. Um die wachsende Weltbevölkerung zu versorgen, werden allein bis 2030 30% mehr Energie, 40% mehr Wasser und 50% mehr Nahrungsmittel nötig sein. Der Lebensstil der Moderne stößt an seine Grenzen. Würde man den heutigen Ressourcen- und Energieverbrauch von uns Europäern globalisieren, bräuchte man vier Planeten als Reserve. Schon heute führt der Kampf um die Rohstoffe zu Instabilität und Konflikten (siehe Ostkongo oder die Spannungen in Asien). Und genau so, wie die Entscheidungen der USA oder Europas ökologische und soziale Auswirkungen auf den Rest der Welt haben, so werden die Entscheidungen Chinas, Indiens, Nigerias oder Brasiliens in naher Zukunft immense Auswirkungen auf uns haben, ob das nun die Themen Erderwärmung, Migration, Terrorismus, Pandemien oder Handel betrifft. Die Schicksale der Staatengemeinschaft haben sich in einem solchen Maße und in einer solchen Geschwindigkeit miteinander verwoben – ökonomisch, ökologisch, sozial, und auch moralisch – dass die tief verwurzelten Ungerechtigkeiten im Zusammenleben der Völker ein Bumerang sind, der auch uns in den reichen Industriestaaten früher oder später um die Ohren fliegen wird. Wer also globale Gerechtigkeit für eine Utopie hält, die bestenfalls für Katholikentagsreden taugt, der muss auch das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten für eine Utopie halten.

Vor der zweiten Herausforderung, die die Gerechtigskeitsfrage im 21. Jahrhundert mit sich bringt, stehe ich als Christ. In Zeiten von globalen Rund-um-die-Uhr-Medien, von Internet und Mobilfunk bis in die hintersten Ecken des Planeten bekommt das christliche Grundgebot der Nächstenliebe einen ganz neuen Klang, eine ganz neue Dringlichkeit. Das Gebot der Nächstenliebe kennt eben keine geographische Einschränkung: Der Nächste, die Nächste, das ist auch die Textilarbeiterin in der bangladeschischen Fabrik Rana Plaza, das ist auch der junge Nordafrikaner vor dem Zaun der spanischen Exklave Melilla, das ist auch die Umweltaktivistin im Nigerdelta… Die Ursachen und die Wirkungen von Ungerechtigkeit sind längst über die Kontinente hinweg vernetzt; und sie sind für jeden sichtbar, für Notleidende und Profiteure zugleich.

Der Anspruch, in diesem Zeitalter globalisierter Verstrickung seinen Nächsten zu lieben, ist deshalb von einer skandalösen Sprengkraft. Er widerspricht so offensichtlich jeder vermeintlich realpolitischen Machtpolitik, sodass er entweder in seiner Radikalität und Kompromisslosigkeit neu ernst genommen werden muss oder tatsächlich nur noch als Folklore eines Wohlfühl-Christentums belächelt werden kann. Eine Gesellschaft, die zu Recht darauf stolz ist, auf dem Fundament christlicher Werte zu stehen, muss sich meines Erachten diesem radikalen Anspruch stellen. Weil aber die ständige Dauer-Empathie mit allen Notleidenden auf der Welt eine emotionale Überforderung wäre, kann dieser Anspruch nicht einfach nur persönlich von jedem Einzelnen, sondern muss politisch eingelöst werden. Meine folgenden Überlegungen stelle ich also ganz explizit als politischer Christ an.

II.

Das wohl am besten gehütete Geheimnis der internationalen Politik ist: Weder ist Geldmangel das Hauptproblem der Welt noch ist Geld die alleinige Lösung für die großen Herausforderungen unserer Zeit. Noch nie in der Geschichte der Menschheit war so viel Geld vorhanden und vagabundierte in der Welt herum wie heute. Die Frage ist: zu welchem und wessen Nutzen? Wenn wir also heute vom Geld sprechen, dann sprechen wir eigentlich darüber, welche Vorstellung wir von Gerechtigkeit haben. Es wäre leicht, die Diskussion um die verschiedenen Instrumente zur Finanzierung globaler Entwicklung als Technokratendebatte zu missverstehen oder als Rechenübung abzutun. Aber die Fragen, die sich dahinter verbergen, sind zutiefst politisch und im besten Sinne ideologisch: welches Ideal von globaler Gerechtigkeit haben wir?

III.

Ich möchte heute drei Zugänge zum Thema internationale Gerechtigkeit ansprechen, die alle mit bestimmten Finanzierungsquellen verbunden sind. Diese drei Zugänge ergänzen sich, es gibt hier kaum ein entweder oder, sondern eher ein sowohl als auch.

Einen ersten Zugang kann man unter dem Stichwort „Eigenverantwortung“ zusammenfassen. Das heißt, dass zunächst jede Nation selbst für das Wohlergehen und den Wohlstand ihrer Bürgerinnen und Bürger verantwortlich ist. Die Despoten und Nimmersatten, die sich in allzu vielen Ländern an der Macht halten und den Ressourcenreichtum ihrer Länder einer kleinen Elite zuschanzen, möchte man an den Schultern packen und rütteln und ihnen sagen: Die Not und das Elend in eurem Land, die müsst ihr beenden, das ist eure Verantwortung! Jährlich fließen allein aus Afrika etwa 50 Milliarden Dollar Kapital schwarz ab, als Ergebnis von Korruption, schwacher Steuersysteme und mangelnder Rechtsstaatlichkeit, die nationale und internationale Firmen bestens für sich auszunutzen wissen. Langfristige Investitionen in Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur kann ein Staat aber nur tätigen, wenn er über ein zuverlässiges Steueraufkommen verfügt, das von einem zuverlässigen Privatsektor getragen wird, der wiederum geordnete Rahmenbedingungen braucht. Wer Gerechtigkeit sucht, der darf nicht akzeptieren, dass die Regierungen armer Staaten sich in die bequeme Rolle des passiven Opfers zurückziehen und mit dem Verweis auf die Heuchelei der reichen Länder ihre eigene kaschieren.

Aber: deshalb die Ursache und damit die Überwindung von Armut und Ungerechtigkeit ausschließlich als innerstaatliche Angelegenheit zu betrachten, springt natürlich zu kurz. Der Philosoph Thomas Pogge rechnet vor: 1960 betrug der Vorsprung Europas gegenüber Afrika im Pro-Kopf-Einkommen 30:1, eine Folge von Jahrzehnten brutalem und ausbeuterischem Kolonialismus. Selbst wenn die Länder Afrikas seitdem alles richtig gemacht hätten und eine um einen Prozentpunkt über der europäischen liegende jährliche Zuwachsrate des Pro-Kopf-Einkommens gehabt hätten, wäre dieser Vorsprung erst zu Beginn des 24. Jahrhunderts überwunden, also in etwa 300 Jahren. Damit komme ich zum zweiten Zugang zum Thema Gerechtigkeit: Es gibt also ohne Zweifel eine historische Verantwortung zur sogenannten Entwicklungshilfe; und eine moralische Verantwortung gibt es auch, denn solange auf dieser Welt Kinder sterben müssen, weil sie Durchfall haben, weigere ich mich zu glauben, dass es nicht kluge Wege gibt, mit einem Teil unseres Reichtums Not zu lindern, egal wo auf der Welt sie erlitten wird. Natürlich kann und muss man über die Absurditäten und Pervertierungen des Systems der sogenannten „Official Development Aid“ (ODA) nachdenken; auch darüber, wie das in eine Welt passt, die längst nicht mehr einzuteilen ist in Geber und Nehmer, arm und reich, Nord und Süd. Doch trotz all dieser systemischen Ambivalenzen und politischen Verschiebungen warne ich davor, in Frage zu stellen, dass die reichen Staaten den ärmeren finanziell und technisch unter die Arme greifen müssen. Seit 1970 (1970!) versprechen die Industriestaaten immer wieder hochoffiziell, 0,7% des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe bereitzustellen. Die Europäische Union bekräftigte noch 2005, dieses Ziel bis 2015 zu erreichen. Und die Realität im Jahr 2014, ein Jahr vor der Zielmarke? Da verharren wir in Deutschland bei 0,38%, und das in Zeiten von Rekord-Steuereinnahmen! Im Englischen sagt man so schön „Put your money where your mouth is“, also: Man muss den Worten auch Taten folgen lassen, und zwar mit dem Geldbeutel. Nun weiß ich, lieber Herr Minister Müller, Sie wären der letzte, der sich gegen eine Erhöhung des Entwicklungs-Etats wehren würde, aber erlauben Sie mir dennoch festzustellen: Wir müssen endlich aufhören, unsere eigenen Versprechen gegenüber der Weltgemeinschaft permanent zu brechen. Die wichtigste Ressource in der internationalen Politik ist Vertrauen, und Vertrauen gewinnt man nur durch Glaubwürdigkeit. Die Frage der 0,7% Entwicklungshilfe ist für mich eine eminente Frage der Glaubwürdigkeit.

Dem steht nicht entgegen, dass man gleichzeitig über Effizienz und Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit sprechen muss. Kluge Entwicklungshilfe sollte ja, wie es ein viel zitiertes Sprichwort besagt, den Menschen keine Fische geben, sondern sie das Fischen lehren.

Das Problem dabei ist: Während wir den Menschen das Fischen lehren, fischen wir gleichzeitig vor ihren Küsten selber die Fische weg, und traurigerweise ist das keine Metapher, sondern bittere Realität. Und damit bin ich beim dritten Zugang zur internationalen Gerechtigkeit: Wo die globalen Strukturen ungerecht sind, und wo unser innerstaatliches Handeln hier in Deutschland und Europa einer gerechteren Welt im Wege steht, da hilft auch die beste Entwicklungszusammenarbeit nichts und die größten Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer führen ins Leere.

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Afrika importiert jährlich Lebensmittel im Wert von 35 Milliarden US-Dollar. Ausgerechnet der Kontinent, in dem der weltweit größte Anteil noch unbebauter landwirtschaftlicher Nutzflächen liegt! Viele Gründe liegen hierfür vor Ort, aber es sind doch auch das internationale Handelssystem und die Agrarpolitik in Europa und den USA, die es den Entwicklungsländern schwer machen, ihre Ernährungssicherheit auf eigene Füße zu stellen. Wie Brot für die Welt vor einigen Monaten meldete, konnte Deutschland seine Exporte gefrorener Hähnchenteile nach Afrika von 20 Millionen Kilo im Jahr 2011 auf 42 Millionen Kilo im darauffolgenden Jahr mehr als verdoppeln und leistet so einen nachhaltigen Beitrag zur Verdrängung lokaler Kleinbauern. Wer redet da noch von Entwicklungshilfe?

Wir brauchen also doch nicht ernsthaft über Armutsreduzierung reden, wenn wir nicht auch intensiv an einer entwicklungsfreundlichen Neuordnung der internationalen Handelspolitik, der Agrarpolitik, der Reform des internationalen Finanzsystems inklusive dem Austrocknen von Steueroasen und an einem global wirksamen Regime zur Reduzierung von CO2-Emissionen arbeiten. (Dazu gehört meiner Ansicht nach auch eine adäquate Bepreisung von CO2-Emissionen und eine Finanztransaktionssteuer, aber möge der Blitz mich treffen, wenn nicht Herr Giegold zu diesem Thema etwas kluges und provokantes sagen wird.) Nach meiner Einschätzung befindet sich die Arbeit auf allen diesen Baustellen in einem unbefriedigenden, zum Teil besorgniserregenden Zustand. Das beschädigt ganz massiv die Glaubwürdigkeit gerade der reichen Nationen in diesem Prozess.

Klar ist: Alle Staaten, ob Entwicklungs-, Schwellen- oder Industrieländer, müssen ihren Teil der Verantwortung für eine gerechtere Welt übernehmen. Eigentlich gibt es dafür schon seit langem die Formel der „geteilten, aber unterschiedlichen Verantwortung“ etwa für die Umwelt- und Klimafrage. Leider ist aus der klugen und selbsterklärenden Einsicht, dass wir alle eine Verantwortung für die Zukunft des Planeten haben, die aber wegen unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Fähigkeiten von Land zu Land unterschiedlich wahrgenommen werden muss, nun vor allem ein Fingerzeigen geworden, mit dem jeder die Verantwortung der anderen groß und den Veränderungsbedarf bei sich selbst klein schreiben möchte. Hier wünsche ich mir mehr Mut von Deutschland und Europa.

IV.

Nach Amartya Sen, dem indischen Nobelpreisträger für Wirtschaft, gibt es keine objektive Gerechtigkeit, sondern nur Annäherungen zur Gerechtigkeit. Internationale Politik bleibt in diesem Sinne immer ein unvollkommenes Ringen um Fairness und Interessensausgleich. Wenn aber Gerechtigkeit als Idealzustand immer abstrakt und vielleicht nie erreichbar bleiben wird, dann ist es umso wichtiger, Gerechtigkeit als Haltung zu verstehen, die sich in der praktischen Politik beweisen muss.

Deshalb möchte ich zum Abschluss die Frage stellen: Mit welcher Haltung gestalten wir heute internationale Politik, in welcher Art und Weise suchen wir globale Gerechtigkeit? Diese Frage liegt mit der Fortschreibung der globalen Entwicklungsagenda, der sogenannten Post-2015 Agenda der Vereinten Nationen, auf dem Tisch. Und darüber hat auch das High Level Panel des VN-Generalsekretärs, bei dem ich die Ehre hatte mitzuarbeiten, intensiv diskutiert. Unsere Einschätzung war am Ende einmütig: Eine Politik des „business as usual“ reicht nicht mehr. Notwendig ist ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik, der eine Antwort ermöglicht auf die unwiderrufliche Interdependenz allen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Geschehens auf unserem Planeten. Das Panel hat dafür den Begriff „globale Partnerschaft“ geprägt und meint damit einen neuen Geist der Solidarität, der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht in der internationalen Politik. Das heißt: Nationale Politik muss bewusst auch unter Berücksichtigung des globalen Gemeinwohls und damit globaler Gerechtigkeit gestaltet werden. Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Gedanken in einem Positionspapier zur Post-2015 Agenda aufgegriffen hat; und ich erhoffe mir von der Bundesregierung, dass sie mit Mut, Ehrgeiz und Verhandlungsgeschick das notwendige politische Kapital in dieses große Projekt investiert. Wenn es im Rahmen dieses VN-Prozesses gelingt, neues Vertrauen ineinander zu wecken, dem gemeinsamen Streben nach Gerechtigkeit neue Glaubwürdigkeit zu geben und ein neues Bewusstsein für die wechselseitige Abhängigkeit und die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zu nähren, dann wäre schon viel gewonnen. In diesem Sinne wünsche ich uns eine gewinnbringende Diskussion – über Glaubwürdigkeit, Haltungen und natürlich auch über das liebe Geld.