Miteinander Geschichte bezeugen und Zukunft gestalten
Verleihung des Jan Karski Eagle Award 2023 an Bundespräsident a.D. Horst Köhler
Łódź, 9. September 2023
Die hohe Auszeichnung, die Sie mir heute zuteil werden lassen, ehrt mich und sie erfüllt mich mit Freude. Diese Freude ist eine stille, zwar keineswegs heimliche, aber doch zaghaft-vorsichtige Freude. Sie ist weit entfernt von lautem Jubel. Und dies nicht nur, weil in diesem wunderschönen Gotteshaus der Jubel allein dem Allmächtigen gelten möge – soli Deo gloria –, sondern besonders, da mir die Erinnerung an den Namensgeber des verliehenen Preises Demut auferlegt.
Jan Karski ist in Deutschland bis heute weitgehend unbekannt. Das ist bedauerlich, denn er war ein großer Mann: Sein Mut und seine Geradlinigkeit, seine Unerschrockenheit und seine Prinzipientreue beeindrucken. Was er, der als Kurier für den polnischen Untergrundstaat arbeitete, alles auf sich nahm, um für sein Land und die Menschen in seinem Land einzutreten, verdient höchsten Respekt. Jan Karski war Augenzeuge des Überfalls der Deutschen auf Polen. Seine Berichte aus dem Warschauer Ghetto oder dem Transit-Ghetto in Izbica sind und bleiben ebenso beeindruckende wie verstörende Zeugnisse des von den Nationalsozialisten systematisch geplanten und begangenen Völkermords an den Juden und der in Polen verübten Verbrechen. Als Deutscher kann man sie auch 78 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht ohne Scham lesen.
Die Erinnerung an Jan Karski lässt mich die Last und die Schwere dieser Scham spüren. Darum kann und will ich heute nicht jubeln. Aber eine leise Freude über diesen besonderen Preis spüre ich: Eine Freude darüber, dass es heute, im Jahr 2023, möglich ist, dass ein Deutscher diese Ehrung, die sich mit dem Namen Jan Karskis und seiner Mission verbindet, erhalten darf.
Ich verstehe den Jan Karski-Adler-Preis weniger als Auszeichnung allein meines Wirkens, sondern vor allem als Würdigung des langen Weges der Verständigung, den wir, Deutsche und Polen, Polen und Deutsche, in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam gegangen sind. Der unvergessene Johannes Paul II. hob bereits im November 1980 bei seiner ersten Reise, die ihn als Papst nach Deutschland führte, „die wachsende Verständigungsbereitschaft“ zwischen Deutschen und Polen hervor und stellte damals, 35 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, fest: „In allen leidvollen Beziehungen zwischen den Völkern gilt der Grundsatz: Nicht das Aufrechnen des gegenseitig sich zugefügten und erduldeten schweren Unrechts und Leids, sondern allein der Wille zur Versöhnung und die gemeinsame Suche nach neuen Wegen friedlichen Zusammenlebens können für die Völker den Weg in eine bessere Zukunft ebnen und gewährleisten.“
Und in der Tat: Auf dem Weg in eine bessere Zukunft sind wir, Polen und Deutsche, schon vorangekommen. Wir können heute froh sein über die vielen Brücken, die unsere Völker wieder und oftmals ganz selbstverständlich miteinander verbinden. Diese Leistung kann nur ermessen, wer um die tiefen Gräben weiß, die unsere Nationen einst entzweiten. Diese tiefen Gräben werden in Jan Karskis wichtigstem Werk, dem erstmals 1944 in den USA veröffentlichten Buch „Story of a Secret State“ greifbar. Hierin schildert Jan Karski, was er seit dem 24. August 1939 – eine Woche vor dem deutschen Überfall auf Polen – bis zu seinem Empfang im Weißen Haus in Washington am 28. Juli 1943 erlebt, erlitten, gehört und gesehen hat.
Dazu zählt auch eine Szene im Krankenhaus der slowakischen Stadt Prešov. Dorthin kam Jan Karski nach dem gescheiterten Versuch, sich das Leben zu nehmen. Das Aufschneiden der Pulsadern schien für ihn der einzige Ausweg, um weiterer Verhöre und Folter durch die Gestapo, die er in einem slowakischen Gefängnis erlitt, zu entgehen. Vor allem die Befürchtung, dass er unter Folter Informationen zum polnischen Untergrundstaat preisgeben könnte, motivierte ihn zu diesem Schritt, der – Gott sei Dank – misslang.
Nach Tagen im Krankenhaus, stets von einem Gestapo-Beamten in Zivil bewacht, betrat unerwartet eine junge Frau Karskis Zimmer. Mit einem Blumenstrauß in der Hand spricht sie den im Bett liegenden Patienten, der gleichermaßen überrascht wie erschrocken gewesen sein dürfte, an und sagt: „Ich bin Deutsche, ich bin gerade am Blinddarm operiert worden. Alle Patienten hier im Krankenhaus haben von Ihnen gehört und fühlen mit Ihnen. Ich möchte Ihnen gern diese Rosen schenken, damit Sie nicht denken, alle Deutschen sind so schlecht wie die, denen Sie im Krieg begegnet sind.“ Karski antwortete schroff: „Ich kenne Sie überhaupt nicht, wir haben noch nie miteinander gesprochen. Warum belästigen Sie mich?“ Die deutsche Besucherin reagiert enttäuscht: „Jetzt seien Sie doch nicht so verbittert. Lernen Sie zu vergeben. Das wird Sie glücklicher machen.“
Wie zynisch müssen diese, wenn auch wohl gut gemeinten, Worte für Jan Karski geklungen haben? Ach, hätte die junge Deutsche doch nur gewusst, zu wem sie spricht. Hätte sie nur den Hauch einer Ahnung gehabt, was dieser junge Mann – damals Ende 20 – zu diesem Zeitpunkt schon am eigenen Leib erlitten, was er an fremdem Leid schon gesehen und welches Bild von den Deutschen er gewonnen hatte. Dann wäre ihr klar gewesen: Vergeben zu lernen, ist sehr, sehr viel verlangt.
Wir wissen: Zur Vergebung lässt sich nicht auffordern, Vergebung lässt sich nur erbitten. Sie geschieht selten von jetzt auf gleich und als Ausdruck der Reue bedarf es mehr als ein paar warmer Worte und eines Blumenstraußes. Vergebung setzt eine Begegnung von Täter und Opfer voraus. Und schon darum konnte es mit Blick auf die Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes von deutscher Seite nie die Erwartung von Vergebung geben.
Nach dem Krieg aber keimte auf beiden Seiten von Oder und Neiße die Hoffnung auf gute Nachbarschaft, auf verlässliche Partnerschaft, ja sogar Freundschaft. Auch der Europa in West und Ost spaltende Eiserne Vorhang konnte diese Hoffnung nicht unterdrücken.
Sie war der Motor für einen Prozess gegenseitiger politischer Annäherung, zu deren wichtigsten Stationen die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags durch Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerpräsident Józef Cyrankiewicz im Dezember 1970 zählt. Willy Brandt resümierte damals in einer an die Deutschen gerichteten Fernsehansprache aus Warschau: „Nichts ist heute wichtiger als die Herstellung eines gesicherten Friedens. Dazu gibt es keine Alternative. Frieden ist nicht möglich ohne europäische Solidarität. Alles, was uns diesem Ziel näherbringt, ist ein guter Dienst an unserem Volk und vor allem ein Dienst für die, die nach uns kommen.“
Herr Kardinal, meine Damen und Herren, unsere Gegenwart zeigt, wie weitsichtig die politischen Entscheidungen auf deutscher und polnischer Seite vor über 50 Jahren waren. Wir erleben angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine welche Bedeutung europäische Solidarität für Frieden und Sicherheit unserer Nationen sowie der unserer Nachbarn hat. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben nach dem 24. Februar des vergangenen Jahres auf die russische Aggression mit Einigkeit geantwortet und Handlungsfähigkeit bewiesen. Manche mögen darauf gesetzt haben, dass wir uns auseinander dividieren lassen, aber wir Europäer haben aus unserer Geschichte gelernt: Wo Grenzen angetastet und in Frage gestellt werden, sind Krieg und Konflikt die Folge. Ein modernes, an den Prinzipien von Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit orientiertes Europa, das das kostbare Gut des Friedens zu schätzen weiß, muss imperialistischem Expansionsstreben entgegentreten.
Wir können also aus unserer Geschichte lernen. Bevor man aber die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen kann, gilt es die historischen Wahrheiten, auch die Schuld und das Versagen des eigenen Volkes, zu benennen und anzuerkennen. Dies mag schmerzhaft sein, ist aber notwendig und zeugt vom „Wille[n] zur Versöhnung“, den Johannes Paul II. ansprach. Wir Deutsche sind uns der Verantwortung für Krieg und Gewalt, die von unserem Land ausgingen, bewusst. Doch viele Geschichten, die sich konkret mit dem polnischen Leid während des Zweiten Weltkriegs verbinden, sind in meinem Land noch immer zu wenig bekannt. Dazu gehört nicht zuletzt das Wissen über das Schicksal der Kinder von Zamość.
Sie, werter Pater Ludwik, wurden wie ich in Skierbieszów, im Kreis Zamość, geboren. Nur wenige Jahre Altersunterschied trennen uns. Unsere Familien können beide Geschichten von Krieg und Vertreibung erzählen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Ich bin sehr dankbar, dass wir uns heute begegnen. 2020 erhielten Sie den Jan Karski Eagle Award und wer Ihre Lebensgeschichte kennt, begreift schnell, warum. Während Ihrer Zeit als Hochschulseelsorger in Breslau (1981-1988) haben Sie konsequent die Idee eines gewaltlosen Kampfes gegen den Kommunismus vertreten. Und Mut haben Sie bewiesen, als Sie im Jahr 2010 in einem offenen Brief an die polnischen Bischöfe auf Missstände in Ihrer Kirche hinwiesen und vor Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Antisemitismus unter den Priestern warnten.
Neben den Geschichten von Krieg und Konflikt zwischen den Völkern gehören zu Europa eben auch die Geschichten von mutigem, demokratischem Aufbruch, vom Einsatz für Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Und natürlich denke ich dabei vor allem auch an Solidarność in Polen oder die Friedliche Revolution in der DDR.
Zu Europa gehören Lebensgeschichten wie Ihre, lieber Pater Ludwik, und wie vielleicht auch meine, die deutlich werden lassen, was mit Fleiß und Beharrlichkeit erreicht werden kann und die zeigen, dass es sich lohnt, den Menschen zuzuhören und ihnen eine Stimme zu geben.
Zu Europa gehören nicht zuletzt wunderbare Werke der Literatur, die uns daran erinnern, wie es einmal war und wie es werden kann, die von gelingendem Zusammenleben und Miteinander erzählen.
So lesen wir etwa in dem Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Roman „Das gelobte Land“ (Ziemia obiecana) des späteren Literatur-Nobelpreisträgers Władysław Reymont (1867-1925) von Karol Borowiecki, Max Baum und Moryc Welt. Es sind drei junge Freunde, ein Pole, ein Deutscher und ein Jude, und sie eint ein unerschrockener Unternehmergeist. Obwohl ihnen das nötige Geld fehlt, wagen die Drei die Gründung einer Baumwollfabrik. Ihre unterschiedliche Herkunft und ihre sie voneinander unterscheidenden kulturellen Hintergründe betrachten sie nicht als Hindernis, sondern als Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Heute würden wir vielleicht sagen: Sie brachten neben internationalem Gründergeist reichlich „diversity capital“ in ihr Unternehmen ein. Die fiktive Geschichte spielt übrigens im Jahr 1885 in Łódź, in der Stadt also, die in diesem Jahr auf 600 Jahre Stadtgeschichte zurückblicken kann und in der ich heute Ihr Gast sein darf. Jan Karski nannte Łódź die Stadt seiner „glücklichen und stolzen Jugend“. Nicht ohne Grund siedelte Reymont die Handlung seines Romans hier an, denn damals – das wissen Sie besser als ich – war Łódź mit seiner polnisch-jüdisch-deutschen Bevölkerung ein aufstrebender Standort der Textilindustrie. „Sprachen, Kulturen und Konfessionen lebten [hier] in Łódź […] nicht reibungslos, aber verträglich nebeneinander.“ Der Zweite Weltkrieg setzte diesem verträglichen Nebeneinander ein jähes Ende. Doch es gab einen Neuanfang und heute ist Łódź ein gerade auch für junge Menschen anziehendes Zentrum der Kreativwirtschaft, das den Geist der Moderne atmet.
Herr Kardinal, meine Damen und Herren, in der Vielfalt an Völkern, Sprachen und Kulturen unseres Kontinents liegt gewiss die Ursache für manche Spannung, aber hierin liegt eben auch das enorme Potenzial Europas. Wir sind gut beraten, dieses Potenzial einzubringen und zu nutzen, um uns als Europäer selbstbewusst und engagiert in dieser von zahlreichen Krisen, Konflikten und Herausforderungen geprägten Welt zu behaupten. Wir können enorm viel bewegen, wenn wir unsere Kräfte bündeln! Das gilt nicht nur mit Blick auf die Wehrfähigkeit Europas, sondern auch mit Blick auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents in einer interdependenten Welt.
Deutsche und Polen sollten unverbrüchlich auf den „Geist der Versöhnung und Freundschaft“ setzen, den Präsident Aleksander Kwaśniewski und Bundespräsident Johannes Rau vor 20 Jahren (am 29. Oktober 2003) in einer gemeinsamen Erklärung in Danzig beschworen. Sie riefen damals zu einem Dialog über unsere Vergangenheit und unsere gemeinsame Zukunft auf, der gegenseitiges Verständnis vertiefen und unsere Gemeinsamkeiten als Bürger Europas stärken könne.
Nicht ohne Grund führte mich mein erster Auslandsbesuch als Bundespräsident im Sommer 2004 nach Polen. Gemeinsam mit Aleksander Kwaśniewski und Lech Aleksander Kaczyński habe ich mich als Bundespräsident um ein gutes Miteinander unserer Völker bemüht. Ich bin sehr dankbar, dass ich bei meinen Besuchen in Polen immer wieder den „Geist der Versöhnung und Freundschaft“ erleben durfte. Die Freundlichkeit mit der mir die Menschen in Polen, Junge und Alte, begegneten hat mich stets berührt und motiviert, Polen für mich neu zu entdecken.
Heute können wir, Deutsche und Polen, der Welt davon berichten, wie sich Entfremdung in Freundschaft verwandeln lässt. Wir können zeigen, wie Geschichte gelingen kann. Und wir wissen auch, wie man trotz manch politischer Spannung und Meinungsverschiedenheit, miteinander im Gespräch bleibt und sich gegenseitig fordert.
Was Jan Karski unter Einsatz seines Lebens bezeugt hat, darf nicht vergessen werden. Der Adler, der übrigens Wappentier in Polen wie in Deutschland ist, mahnt zur Wachsamkeit: Lasst nicht zu, dass sich die Abgründe der Geschichte wiederholen, weder bei euch noch bei euren Nachbarn. Achtet aufeinander und pflegt die Zusammenarbeit und Freundschaft!
Ich danke Ihnen. – Dziękuję bardzo!