Laudatio auf Premierministerin Helen Zille anlässlich der Verleihung des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung

Paulskirche, Frankfurt am Main, 8. November 2014



I.

Im Jahr 1864, inmitten des amerikanischen Bürgerkrieges, hielt Abraham Lincoln in Baltimore, Maryland, eine leidenschaftliche Rede über die Freiheit. Er sagte: „The world has never had a good definition of the word liberty“. Seitdem sind genau 150 Jahre vergangen; eineinhalb Jahrhunderte, in denen viele Teile der Welt zur Freiheit gefunden haben, in denen die Rassentrennung in den USA, der Faschismus und der Kommunismus in Europa, und auch die Apartheid in Südafrika, überwunden wurde. Aber hat die Welt heute, 150 Jahre später, wirklich eine Definition von Freiheit gefunden? Lincoln warnte damals: „We all declare for liberty; but in using the same word we do not all mean the same thing”. Auch heute wird der Wert der Freiheit allerorten für sich reklamiert: der moderne Diktator von Welt verteidigt längst nicht mehr die Unfreiheit, sondern definiert die Freiheit einfach zu seinen Gunsten um; und auf den Finanzmärkten versteht so mancher unter Freiheit, ungestört von Regeln den eigenen Profit hochzutreiben und die Kosten, wenn’s schief geht, der Allgemeinheit aufzubürden.

Was ist also der Kern der Freiheit, wenn man ihr das Mäntelchen der Beliebigkeit nimmt, vor dem Abraham Lincoln warnte? Nun müssen Sie mir verzeihen, wenn auch ich heute keine Definition von Freiheit liefern werde. Vielleicht nähern wir uns der Freiheit auch nicht so sehr über Definitionen, sondern eher über Geschichten und Lebensmosaiken, in denen sich diese große Idee brüchig spiegelt in all ihrer Widerspenstigkeit und in all ihrer Verheißung. Vielleicht lehrt uns nicht das Wort den Sinn von Freiheit, sondern die Tat. Vielleicht brauchen wir in diesen unübersichtlichen Zeiten vor allem Menschen, die uns Anschauung dafür geben, was Freiheit ist, was sie sein kann.

Helen Zille ist ein solcher Mensch.

Als Wolfgang Gerhardt vor einiger Zeit bei mir anrief und mich bat, anlässlich der Verleihung des Freiheitspreises der Friedrich-Naumann-Stiftung an Helen Zille die Laudatio zu halten, da habe ich ohne Zögern zugesagt.

Ich kenne Helen Zille persönlich durch eine kurze Begegnung vor 5 Jahren, als wir beide in Bonn auf einer Konferenz zur Entwicklungspolitik sprachen – ich als Bundespräsident, sie als frischgebackene Premierministerin von Westkap. Mir ist nicht nur ihre klare, kritische Rede zur Entwicklungszusammenarbeit in guter Erinnerung, sondern ich weiß auch noch ganz genau, wie mich diese resolute, leidenschaftliche Frau beeindruckt hat durch ihr Auftreten und ihre ganz eigene Mischung aus, ja, ich möchte sagen, deutscher Strenge und südafrikanischer Gelassenheit. Seitdem habe ich ihren politischen Weg in Südafrika aus der Ferne mit einiger Neugier verfolgt.

Aber ich habe auch noch eines zweiten Grundes wegen mit großer Freude zugesagt. So ein Preis hat immer zwei Funktionen: nämlich, ganz platt gesagt, einen Menschen zu loben…und damit alle anderen zu ermahnen! Anders ausgedrückt: Ein Preis versucht, eine bestimmte Person für Ihr Werk zu würdigen, und damit gleichzeitig einer bestimmten Idee mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. In diesem Falle dachte ich mir: ein deutscher Freiheitspreis an eine afrikanische Politikerin, jawohl, das ist das richtige Zeichen. Wir brauchen in Deutschland mehr dieses Über-den-Tellerrand-Schauens, wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für den afrikanischen Kontinent, wir brauchen eine tiefere, globalere Auseinandersetzung mit verschiedenen Verständnissen von Freiheit. Ich freue mich, dass die Friedrich-Naumann-Stiftung die Zeichen der Zeit erkannt hat, dass sie über den Tellerrand geschaut hat und Weitsicht bewiesen hat mit dieser Entscheidung.

So habe ich also spontan und gerne zugesagt, und doch habe ich bei der Vorbereitung plötzlich einen Heidenrespekt vor dieser Laudatio bekommen. Welches Urteil über Helen Zille, über Südafrika darf ich mir anmaßen? Mit wie viel Bestimmtheit oder Selbstgewissheit kann ich denn wirklich über die Freiheit sprechen und diesem großen, faszinierendem Land Südafrika gerecht werden?

Erlauben Sie mir daher, meine Damen und Herren, liebe Frau Zille, dass ich lediglich einige Gedankenskizzen vortrage, die mir bei der Beschäftigung mit Helen Zilles Lebensgeschichte gekommen sind, und gestehen Sie mir zu, dass ich Anspruch auf Unvollständigkeit erhebe. Wenn die These stimmt, dass sich die Freiheit im Leben von Helen Zille brüchig widerspiegelt wie in einem Mosaik, dann möchte ich mich heute auf nur drei dieser Mosaiksteine konzentrieren. Wenn ich über die Voraussetzungen von Freiheit nachdenke, über die das Leben von Helen Zille Zeugnis ablegt, dann fällt mir auf, fällt mir ein: Freiheit braucht Mut. Freiheit braucht Gerechtigkeit. Und: Freiheit braucht Identität. Sehen wir uns diese Mosaiksteine etwas genauer an.

Freiheit braucht Mut, denn Angst ist der beste Freund der Unfreiheit. Das Versprechen auf Glück kann die Freiheit nicht selbst einlösen; dafür braucht es Menschen, die etwas wagen, Menschen, die Verantwortung übernehmen, für sich selbst und andere. Helen Zille hat früh schon mit hartnäckiger Unerschrockenheit für die Freiheit gekämpft und sich auch von Gefahren für ihre eigene Person nicht zurückschrecken lassen.

Und so kann man nicht über Helen Zille sprechen, ohne über Stephen Biko zu sprechen. Der Anti-Apartheids-Aktivist starb im September 1977 im Gefängnis, angeblich an den Folgen eines Hungerstreiks. Als junge Journalistin der liberalen Zeitung „Rand Daily Mail“ wurde Helen Zille beauftragt, die Wahrheit herauszufinden. Nach der Veröffentlichung ihres ersten Enthüllungsartikel – Biko war, misshandelt von der Polizei, an einer schweren Kopfverletzung gestorben – bekam sie Todesdrohungen und wurde innerhalb von 48 Stunden vom südafrikanischen Presserat für „tendentiöse Berichterstattung“ verurteilt. Als wenige Jahre später der Chefredakteur der Zeitung gefeuert wurde, weil seine liberale Linie dem Herausgeber zu heikel wurde, nahm die junge Frau aus Solidarität ebenfalls ihren Hut. Und dann wurde sie selbst zur Aktivistin in verschiedenen Gruppierungen, versteckte Anti-Apartheids-Kämpfer in ihrem Haus, bis sie sich eine Zeit lang selbst verstecken musste. Ihr Mut wurde vom Zorn geboren. Sie sagt selbst von sich: „Ich kann nicht stillhalten, wenn etwas geschieht, womit ich nicht einverstanden bin“. Aber Zilles Zorn wurde eben nie zu Zilles Zynismus, sondern blieb stets eine produktive, konstruktive Kraft hinter ihrer furchtlosen Lust auf Veränderung.

Erst später, in der Mitte der 90er Jahre, entdeckte Helen Zille die aktive Politik als Kanal ihres Zornes und ihres Mutes, und zwar über ihr Amt als Vorsitzende des Verwaltungsrats der Grundschule ihres Sohnes. In einem Streit um eine Reform des Arbeitsrechts für Lehrer fackelte sie nicht lange, verklagte die Provinzregierung – und gewann. Drei Jahre später hieß die neue Erziehungsministerin der Provinz dann: Helen Zille. Wer wagt, gewinnt! Dass sie ihre Unerschrockenheit, die manchen Weggefährten geradezu unheimlich ist, auch in politischen Ämtern nicht verloren hat, zeigt folgender Vorfall: bei einem Besuch der Erziehungsministerin in einer Schule tauchten plötzlich ein paar bewaffnete Halbstarke auf. Frau Ministerin Zille schnappte sich ihr Handy, rief die Polizei an, sprang zusammen mit zwei Lehrern in ihr Auto und nahm, offenbar sehr zum Unmut ihres Fahrers, die Verfolgung der Unruhestifter auf… Die entkamen am Ende der Geschichte zwar, aber den Lehrern und Schülern der Schule nötigte dieses praktische Engagement der Ministerin dann doch Respekt ab. Und natürlich beließ sie es nicht dabei, sondern legte ein Programm für mehr Sicherheit in Schulen auf. Später, als Bürgermeisterin von Kapstadt, gelang es Helen Zille übrigens, die Kriminalitätsrate in der Innenstadt um 90% zu senken…

Helen Zille kann nicht stillhalten, wenn sie Unrecht sieht, sie verfolgt ihre Ziele mit preußischem Eifer, und auch im politischen Alltag nimmt sie keinen Blatt vor den Mund. Auf Twitter hat sie über eine halbe Million Follower. Ihre politischen Botschaften, ihre klare Sprache und ihre persönliche Glaubwürdigkeit erreichen offenbar die Menschen.

Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit sind Fesseln für jede Entwicklung, das gilt im Persönlichen wie im Politischen. Deshalb ist Helen Zille mit ihrem Mut und ihrem Tatendrang auch eine Inspiration für andere. Sie ermutigt mit ihrem Beispiel die Bürger dazu, die Verhältnisse nicht als gegeben hinzunehmen und für die eigene Zukunft und die der Gesellschaft zu kämpfen.

III.

Freiheit braucht Gerechtigkeit, denn ohne Fairness und gleiche Startbedingungen degeneriert sie zur Tyrannei des Stärkeren. Als Bürgermeisterin von Kapstadt, zu der Helen Zille 2006 gewählt wurde, stand sie einer der ungleichsten Städte der Welt vor; der zweitgrößten Metropole in einem der ungleichsten Länder der Erde. Extreme Armut und enormer Reichtum stehen sich in Parallelwelten gegenüber. Solche erdrückenden Gegensätze sind ein schleichendes Gift für jede Gesellschaft. Die Widersprüche der südafrikanischen Gegenwart, die exemplarisch auch für viele Widersprüche des gesamten Kontinents stehen, sind Ausdruck einer ökonomischen, sozialen und kulturellen Zerissenheit. Südafrika, das muss betont werden, hat eine der progressivsten Verfassungen der Welt, und doch klafft eine große Lücke zur Rechtswirklichkeit. Beispielhaft dafür steht das Bildungssystem, bei dem sich zwei Extreme gegenüberstehen: auf der einen Seite einige wenige exzellente Schulen und Universitäten und auf der anderen Seite die Masse von maroden Bildungseinrichtungen, die Schulabgänger hervorbringen, welche häufig kaum lesen, schreiben und rechnen können. Dies trifft insbesondere die arme und insbesondere die schwarze Bevölkerung. Die Folge davon ist eine enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit und eine beklemmende Perspektivlosigkeit der Jugend, die zumindest in Teilen auch die hohe Kriminalitätsrate erklärt.

Helen Zille hat früh erkannt, dass es ohne Bildung keine Gerechtigkeit und ohne Gerechtigkeit kein wahrhaft freies Südafrika geben kann. Vielleicht war diese Erkenntnis schon in ihrer eigenen Kindheit angelegt, als der Vater sie täglich auf der Autofahrt zur Schule die Zeitung vorlesen lässt und mit ihr über die aktuelle Nachrichtenlage diskutiert. Über die Bildungspolitik fand sie ihren Einstieg in die Politik und auch heute, als Premierministerin von Westkap, zögert sie nicht, die Bildung in den Mittelpunkt ihres Regierungshandelns zu stellen. Schon zu Beginn ihrer Amtszeit, 2009, gab sie als Richtschnur aus, 80% des Bildungsbudgets für die ärmsten 60% der Schüler zu verwenden. Seitdem sinken die Schulabbrecherraten und steigen die Testresultate, insbesondere der ärmeren Schulen. Und tausende junger Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt geflogen waren, finden nun über das Lohnsubventionierungs-Programm „work and skills“ eine berufsnahe Ausbildung und einen Arbeitsplatz.

Doch Helen Zilles Engagement für ein gerechtes Südafrika der Jugend geht weit über die Bildungspolitik hinaus. In ihrer eigenen Partei gilt sie als radikale Förderin junger Talente, und ihre Überzeugungen spiegeln sich auch wider in ihrem unerbittlichen Kampf gegen die Korruption, in ihrer Anti-Drogenpolitik, in ihrer Gesundheitspolitik. In der Sozialpolitik kämpft sie dafür, nicht den ethnischen, sondern den tatsächlichen ökonomischen Status zum Kriterium für Förderprogramme zu machen. Als einer meiner Mitarbeiter vor einigen Monaten eine junge Südafrikanerin nach ihrer Meinung zu Helen Zille fragte, bekam er die Antwort: „Ich wähle den ANC und ich bin mit vielem in Zilles Politik nicht einverstanden. Aber sie ist die einzige südafrikanische Politikerin, die es wirklich ernst meint mit der Unterstützung für die Jugend“.

Schon heute lebt in Afrika die größte Jugendbevölkerung der Weltgeschichte, und bis zum Jahr 2050 wird sich Afrikas Bevölkerung von heute einer Milliarde auf dann zwei Milliarden verdoppeln. Die Zukunft der Freiheit in Afrika (und damit auf lange Sicht auch, das muss für jeden ersichtlich sein, im Rest der Welt) wird also in großem Maße davon abhängen, ob es gelingt, gerechte Chancen und Perspektiven für die Jugend in Afrika zu schaffen. Helen Zille trägt in Westkap mit großer Ernsthaftigkeit und eisernem politischen Willen dazu bei. Schon allein dafür verdient sie diesen Preis. Doch ich möchte noch einen weiteren Mosaikstein betrachten, der uns dem Wesen Helen Zilles und damit dem Wesen der Freiheit in der Situation Südafrikas näherbringt.

IV.

Freiheit braucht Identität, denn Freiheit ohne Ziel und Sinn ist wie ein Goldbarren in der Wüste   theoretisch wertvoll, aber zu nichts nutze. „After Freedom“, „nach der Freiheit“, heißt treffend der Titel eines in diesem Jahr erschienenen Buches über die Post-Apartheid-Generation Südafrikas, also jene junge Generation, für die die Apartheid nicht mehr Erinnerung, sondern nur noch Vermächtnis ist. Die große Frage Südafrikas heißt heute nicht mehr „Freiheit wovon?“, sondern „Freiheit wozu?“. Das Ringen um eine Einheit stiftende und zukunftsgerichtete Identität dieser Nation steht im Zentrum ihrer gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, und Helen Zille ist ein Gesicht dieses Ringens. Ich sage bewusst „Gesicht“, denn das Aussehen, die Hautfarbe von Helen Zille ist tatsächlich untrennbar verwoben mit ihrer öffentlichen Persönlichkeit und ihrem politischen Spielraum. Sie sieht aus wie die Unterdrücker von einst. „I’m white and there‘s nothing I can do about it. It’s a bloody pity“, sagte sie vor den diesjährigen Wahlen selbstironisch mit der ihr eigenen Freude an der Zuspitzung. Helen Zille musste sich früh daran gewöhnen, vom politischen Gegner als rassistisch bezeichnet zu werden. Natürlich hat es eine traurige Ironie, dass ausgerechnet die Tochter von jüdisch-stämmigen Deutschen, die aus Nazi-Deutschland geflohen waren und es hassten, von einem Staatsrassismus im anderen gelandet zu sein, dass ausgerechnet die Anti-Apartheid-Aktivistin so angefeindet wird. Helen Zille ist dickhäutig genug, um zu verstehen, dass hier für politische Zwecke mit den Ängsten der Menschen gespielt wird, aber sie ist auch klug genug um zu spüren, dass diese Ängste selbst tief verwurzelt sind und ernst genommen werden müssen. Wie kann neues Vertrauen entstehen, wo die Wunden der Vergangenheit noch am verheilen sind? Die Gegenwart Südafrikas kann und darf nicht farbenblind sein, weil die Erinnerung es auch nicht ist, aber sie darf sich eben auch nicht lähmen lassen durch eine machtpolitisch motivierte Zementierung ethnischer und sozialer Unterschiede. Und so kämpft Helen Zille auf ihre Weise, an ihrem Ort, um das Erbe Nelson Mandelas, um seine post-ethnische Vision, um die Regenbogennation. Sie entschloss sich damals, in eine Oppositionspartei einzutreten, weil sie der Überzeugung war, dass auch ein moralischer Sieger der Geschichte, wie der African National Congress des Nelson Mandela es war, nicht auf Dauer unangefochten bleiben darf. Sie spricht, außer der deutschen Sprache ihrer Eltern, noch Englisch, Afrikaans und Xhosa, und damit immerhin drei der elf offiziellen Sprachen des Landes. Mit ihren Wahlerfolgen zeigt sie, dass eine Politik möglich ist, in der nicht die Ethnie im Mittelpunkt steht, und mit den Früchten ihrer Arbeit vermag sie es mehr und mehr, der südafrikanischen Gesellschaft das Unbehagen gegenüber einer multi-ethnischen Partei abzubauen. Helen Zille gibt damit der Suche Südafrikas nach Identität, der Suche nach einem modernen südafrikanischen Freiheitsverständnis, Tiefe und Substanz; sie lässt nicht locker; sie weiß, dass dieser Prozess langwierig und komplex und schmerzhaft und ermüdend ist, und dass er dennoch unvermeidbar bleibt.

Dieser südafrikanische Suchprozess steht beispielhaft für die große afrikanische Erzählung, die derzeit neu geschrieben wird; er steht beispielhaft für einen Kontinent, der dabei ist, sein Selbstverständnis als Opfer zu überwinden und seinen Platz auf der Weltbühne neu zu reklamieren, der aber dabei eben auch spürt, dass Schmerz und Wut über die historische Unterdrückung nicht die einzigen Quellen der eigenen Identität sein können.

Dass Helen Zille eine Frau ist, das mag in diesem Kontext wie eine arg banale Feststellung klingen, und es ist auch sicherlich nicht ihr persönlicher Verdienst, aber es scheint mir doch erwähnenswert. Weil ich nämlich glaube, dass wichtige Impulse in der Suche nach Identität in Afrika gerade von Frauen kommen. Ich glaube, und ich habe das in meinen vielen Reisen nach Afrika auch immer wieder eindrucksvoll erfahren dürfen, dass Afrikas Frauen dem Kontinent Würde und Stolz zurückgeben.

V.

Frau Zille, Sie sollten diesen Preis nicht dafür bekommen, dass wir uns selbst in Ihnen wiedererkennen, nicht als Bestätigung unserer selbst, nicht als Belohnung dafür, dass Sie vielleicht ein bestimmtes Verständnis der Freiheit verteidigen, wie sie uns hier in Deutschland und Europa vertraut ist. Afrika und auch Südafrika müssen ihren eigenen Begriff von Freiheit prägen. Die alten, großen Fragen der Freiheit – was ist das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, was das Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortung, zwischen Freiheit und Gerechtigkeit; Fragen nach Identität als Voraussetzung von Freiheit, Fragen nach den Grenzen der Freiheit – diese Fragen sollen in Afrika anders verhandelt werden als in Europa, sollen sich einen eigenen Weg bahnen hin zu einer afrikanische Moderne sui generis: eine Moderne, die zwar auf dem Boden einer gemeinsamen Humanität wächst, ohne aber ein Abklatsch eurozentrischer Ideen zu sein. Sie, Frau Zille, sind eine Vorkämpferin dieser afrikanischen Moderne, dieses Weges zu einem authentisch afrikanischen Freiheitsbegriff, einer authentisch afrikanischen Demokratie, und dafür soll dieser Preis Sie auszeichnen.

VI.

Nein, Sie sollten diesen Preis nicht dafür bekommen, dass wir uns selbst in Ihnen wiedererkennen, nicht als Bestätigung unserer selbst – sondern dafür, dass wir uns von Ihrem Wirken und Leben Erkenntnis über uns selbst erhoffen: Erkenntnis über unseren Blick auf Afrika, über unseren Blick auf die Politik, über unseren Blick auf die Freiheit.

Ich glaube, erstens: der Freiheitspreis an Helen Zille darf auch als eine Mahnung an uns verstanden werden, diesen riesigen, reichen Kontinent Afrika endlich ernst zu nehmen – mit seinen Widersprüchlichkeiten und Enttäuschungen, seiner Armut und seiner Brutalität, aber auch mit seinen Hoffnungen und Überraschungen, seinen Chancen und Schönheiten, seinem Sinn für Gemeinschaft, seinem unbändigen Zukunftswillen. Die Zukunft Afrikas muss uns auch in Deutschland und Europa am Herzen liegen. Das ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern auch die notwendige Folgerung aus der Tatsache, dass wir – unumkehrbar! – in einer vernetzten Welt leben, in der unsere Schicksale miteinander verknüpft sind. Afrikas Erfolg bietet gerade Europa große Chancen, Afrikas Scheitern birgt ungeahnte Risiken gerade für uns. Für einen differenzierten Blick auf Afrika, der sich denkfaulen Schubladen verweigert und Afrika auf Augenhöhe betrachtet, steht auch diese preußische Afrikanerin, diese stolze Frau, Helen Zille.

Ich glaube, zweitens: der Freiheitspreis an Helen Zille kann auch Erinnerung für uns sein, was persönlicher Mut und Glaubwürdigkeit in der Politik bewirken können, wie sich Beharrlichkeit und Lernfähigkeit, Pragmatismus und Werteorientierung gegenseitig ergänzen können. Helen Zille lehrt uns, wie mit Gespür für die Vergangenheit die Zukunft gestaltet werden kann. Sie macht damit vielleicht auch jenen Hoffnung, die den Glauben an die positive Kraft der Politik verloren haben. Die Optimistin Hannah Arendt hat einst formuliert, Politik sei angewandte Liebe zum Leben. Ein gewiefter Politiker sein und dennoch wahrhaftig Mensch bleiben, der Welt zugewandt, das kann eben zusammenpassen, daran erinnert uns auch Helen Zille. „Ich mache, was ich mache, weil ich es liebe“, sagte sie einmal, und so schlicht dieser Satz klingt, so überzeugend wirkt Frau Zille auf mich in ihrer Leidenschaft für den Zauber der Veränderung, der Politik (in ihren guten Stunden) innewohnen kann.

Ich glaube, last but not least, dass der Freiheitspreis an Helen Zille auch ein Auftrag an uns sein sollte, immer wieder neu um den Kern der Freiheit zu ringen, uns nicht mit den Mäntelchen zufriedenzugeben, die ihr allerorten umgehängt werden, je nachdem, welcher Wind gerade bläst. Die südafrikanische Freiheit ist erst 20 Jahre jung, und unsere gesamtdeutsche Freiheit erst 25 Jahre, und doch scheint die Erinnerung daran, dass dieses kostbare Gut keine Selbstverständlichkeit ist, schon zu verblassen. Frau Zille muss weiter um die Freiheit kämpfen, und wir sollten es auch. Ich hielte es für einen verhängnisvollen Fehler, unsere westliche Ordnung von Demokratie und Freiheit für ewig gesichert zu halten. Sie ist ein Geschenk der Geschichte – aber eines, das wir uns immer wieder neu erarbeiten müssen; immer wieder neu darum streiten müssen, was wir mit Freiheit meinen und wie sie am besten zu schützen ist. In den Kleinlichkeiten der Tagespolitik und in den Wirren der neuen großen Weltkrisen, die uns alle so viel Kraft rauben, schüren wir da noch mit ausreichender Leidenschaft die Glut der Freiheit? Wie steht es um unseren Mut in Politik und Gesellschaft? Was ist unser Beitrag zum Streben nach Gerechtigkeit in Afrika und in der Welt? Wo geben wir der Suche nach Identität – bei uns in Europa und in anderen Teilen der Erde – Richtung und Kontur? Ich bin Helen Zille dankbar dafür, dass ihr Beispiel uns zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen zwingt.

VII.

Nein, lieber Abraham Lincoln, die Welt hat auch 150 Jahre später noch keine abschließende Definition von Freiheit gefunden. Aber die Welt hat Helen Zille gefunden. Das ist doch schonmal ein Anfang.

Frau Premierministerin, ich gratuliere Ihnen von Herzen zu diesem Preis!