Freiheit, Zusammengehörigkeit, Wachsamkeit

Verleihung des Internationalen Preises der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung an Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė, Ministerpräsidentin Kaja Kallas und Ministerpräsidenten Krišjānis Kariņš

4. September 2022



I.
Erstmals verleiht die Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung ihren Internationalen Preis an drei Persönlichkeiten gleichzeitig – an jede von ihnen gesondert, und doch irgendwie auch an alle gemeinsam. Das ist weder Zufall noch eine Folge der Inflation, sondern dafür gibt es gute Gründe. Willkommen in Berlin sehr verehrte Ministerpräsidentin Šimonytė, sehr verehrte Ministerpräsidentin Kallas und sehr verehrter Ministerpräsident Kariņš!
Aus geographischen, historischen und politischen Gründen ist es nicht unüblich, einfach von „den baltischen Staaten“ zu sprechen. Aber dieser Ausdruck sollte einen nicht über drei wichtige Tatsachen hinwegsehen lassen: Alle drei baltischen Nationen sind einzigartig; jeder der drei Staaten hat seinen individuellen Weg in Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung gewählt und alle drei haben seit 1989 einzigartige und bewundernswerte Erfolge erzielt, sowohl einzeln als auch gemeinsam. Das hat natürlich viel mit guter Regierungsführung zu tun. Darum möchten wir heute die Persönlichkeiten ehren, denen die Regierungsgeschäfte von Estland, Lettland und Litauen anvertraut sind und die ihren Aufgaben auf vorzügliche Weise gerecht geworden sind.
II.
Freiheit und Zusammengehörigkeit – die baltischen Nationen lieben beides und haben dies oft bewiesen. Für diese Liebe gibt es keinen schöneren Beweis als den „Baltischen Weg“ vom August 1989: Mehr als eine Million Menschen reichten einander die Hände und bildeten eine Menschenkette, die sich über 600 Kilometer durch die drei Länder zog und Wilna, Riga und Tallinn verband. Die Menschen forderten friedlich Freiheit und feierten ihre Zusammengehörigkeit musikalisch, denn sie sangen Volkslieder und Protestsongs wie „Das Baltikum erwacht“. Sie bildeten wohl den größten Chor, den die Welt je gesehen hat, und ihre „Singende Revolution“ ist so inspirierend, dass die UNESCO den „Baltischen Weg“ zu Recht in ihr Programm „Memory of the World“ aufgenommen hat. Sie feierten die Freiheit und ihre Zusammengehörigkeit und am Ende errangen sie beides.
Freiheit mag noch so geliebt werden, sie kann doch auch verloren gehen. Hayek hat uns gewarnt, dass der „Weg zur Knechtschaft“ nie versperrt ist; und während manche Nationen mit brutaler Gewalt auf diesen Weg gestoßen werden, wählen ihn andere aus Selbsttäuschung. Außerdem ist selbst bewahrte Freiheit keine Garantie für Wohlstand und Überfluss. Hayek erinnert uns daran: „Wir können frei sein und doch unglücklich. Freiheit bedeutet nicht die Versorgung mit allen guten Dingen oder die Abwesenheit aller Übel.“ Und doch gibt es gute Gründe für die Annahme, dass freiheitliche und demokratische Selbstbestimmung auch den Wohlstand begünstigt. Um den MIT-Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu zu zitieren: „Es gibt einen wirtschaftlich und statistisch erheblichen Effekt demokratischer Verhältnisse zugunsten des Wachstums des Bruttosozialprodukts pro Kopf“, und daher „einen positiven kausalen Effekt der Demokratie auf das Wirtschaftswachstum“.
Freiheitliche Demokratien haben also gute Gründe, sowohl wachsam als auch zuversichtlich zu sein. Sie müssen ihre Freiheit schützen, und sie wird ihnen helfen zu gedeihen. Wie sind die baltischen Staaten dieser Herausforderung und Chance gerecht geworden?
III.
Hervorragend. Das Cato Institute und das Fraser Institute, Denkfabriken aus Amerika und Australien, veröffentlichen den Human Freedom Index. 2021 bekleideten darin unter 165 Ländern Litauen, Lettland und Estland den 19., 21. und 4. Platz; Deutschland den 15. Das International Institute for Management Development (IMD), eine unabhängige akademische Institution mit Schweizer Wurzeln und weltweiter Reichweite, analysiert die Fähigkeit von Ländern, ein Umfeld zu schaffen und zu wahren, das die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen begünstigt. Im jährlichen IMD Ranking von mehr als 60 Ländern verbesserten die baltischen Staaten ihre ohnehin schon ansehnlichen Tabellenplätze seit 2020 um zusammengenommen weitere 14 Ränge.
Diese baltischen Erfolge sind natürlich wenig überraschend. Schließlich haben alle drei baltischen Staaten sehr schnell die anspruchsvollen Bedingungen für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union erfüllt, und sie erreichten binnen kurzer Zeit auch das hohe Maß an nachhaltiger wirtschaftlicher Konvergenz, das für die Mitgliedschaft in der Europäischen Währungsunion (EWU) verlangt wird. Sowohl in der EU als auch in der EWU erhöhen die baltischen Staaten nicht nur die Mitgliederzahl, sondern sie sind darüber hinaus zu Vorbildern geworden: Estland ist ein Vorbild für die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik, mit gesetzlich garantiertem Internetzugang und nachweislich den meisten Internet-Zugängen pro Kopf weltweit, mit kostenlosen WLAN-Hotspots überall und mit Schulen, die allesamt seit Langem online sind. Dieses Schulwesen und seine Schülerschaft erreichen übrigens Spitzenergebnisse bei PISA. Lettland hat sich ebenfalls gründlich digitalisiert und verfügt über einen besonders hohen Anteil an Glasfasernetzen. Darüber hinaus hat Lettland seine vorzüglichen Bedingungen für Wirtschaftsunternehmen dadurch weiter verbessert, dass es per Gesetz die seltene Gattung der „Start-Up-Unicorns“ fördert. Besonders erfolgversprechende junge Unternehmen haben Anspruch auf Steuervergünstigungen oder auf Zuschüsse für hochtalentierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um ihnen zu Erfolg zu verhelfen. Litauen hat sein Bruttosozialprodukt zwischen 2000 und 2017 vervierfacht, und es ist unter den sechs Nationen weltweit, die den höchsten Anteil von Menschen mit Hochschulabschluss haben – eine Stärke, die entsprechend viele innovative Investoren sowie Forschung und Entwicklung anzieht.
Zusammengefasst: Litauen, Estland und Lettland haben ihre Freiheit gut geschützt, und sie sind alle prächtig gediehen.
IV.
Das führt uns zurück zu dem wichtigen Thema der guten Regierungsführung. Ich habe bereits das IMD Ranking erwähnt. Es misst auch die Wirksamkeit des Regierungshandelns, das heißt „das Ausmaß, in dem Regierungspolitiken die Wettbewerbsfähigkeit begünstigen“. Im Ranking von 2022 erreichte in dieser Hinsicht Lettland den 28. Platz (von mehr als 60 Nationen), Litauen den 23. Platz und Estland den 15. Platz. Deutschland landete auf Platz 21.
Die drei baltischen Regierungen setzen auf Transparenz und flache Hierarchien, auf eine serviceorientierte Verwaltung, die für die Bürgerinnen und Bürgern leicht erreichbar ist und sich gesprächsbereit zeigt, auf digitale Verwaltung und darauf, ihre Bürgerinnen und Bürger durch moderne Informations- und Kommunikationstechnik zu ertüchtigen. In der Europäischen Union und der Europäischen Währungsunion betonen die baltischen Staaten die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten und die Notwendigkeit, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben.
Diese Grundeinstellung ist den drei Persönlichkeiten, die wir heute ehren, vermutlich angeboren. Aber sie haben sie auch geschärft: Frau Kallas hat einen MBA in Wirtschaftswissenschaften erworben und Unternehmenserfahrung in den Aufsichtsräten verschiedener estnischer Unternehmen gesammelt, die auf dem Feld der erneuerbaren Energien tätig sind. Herr Kariņš hat zunächst in der Wirtschaft Karriere gemacht, die Gründung eines Unternehmens inbegriffen, und war dann Wirtschaftsminister seines Landes. Frau Šimonytė ist Professorin für Wirtschafts- und Finanzwissenschaften und war früher Finanzministerin und auch stellvertretende Vorsitzende der litauischen Nationalbank.
Zugegeben, es mag nicht nötig sein, dass die ganze Welt nur noch von Ökonomen und Menschen mit unternehmerischer Erfahrung regiert wird. Aber den baltischen Staaten scheint dies sehr gut zu bekommen.
V.
Verantwortungsbewusste Politikerinnen und Politiker sowie kluge Ökonomen wissen: die Freiheit erlaubt es einer Wirtschaft zu gedeihen; aber das Streben nach Wohlstand darf die Freiheit nicht gefährden. Wirtschaftliche Staatskunst gebietet Wachsamkeit gegenüber mannigfachen Gefahren, Opfer von wirtschaftlichem Druck oder gar von wirtschaftlicher Erpressung und Aggression zu werden. Freie Nationen müssen abwägen und kalkulieren, welchen Risiken sie durch mögliches räuberisches Verhalten Dritter im internationalen System ausgesetzt sind und wie sie sich dagegen absichern. Sie müssen – ohne Wenn und Aber – systemisch auf Ungewissheiten in der Zukunft vorbereitet sein.
Diese Wahrheiten erscheinen fast selbstverständlich, und doch sind sie von vielen westlichen Regierungen und Geschäftsleuten vernachlässigt worden. Nicht so aber von den baltischen Nationen. Sie wussten es besser, denn sie sind wieder und wieder angegriffen und unter Druck gesetzt worden: Litauen wird seit Monaten willkürlich von der Volksrepublik China boykottiert, während Taiwan laut Presseberichten gerade seinen „Litauen-Moment“ erlebt – die Taiwanesen kaufen begeistert Schokolade, Bier und Kwass aus Litauen, und die Taxifahrer der Insel weigern sich, von litauischen Fahrgästen Geld zu nehmen. Estlands digitale Infrastruktur war 2007 drei Wochen lang lahmgelegt, inmitten eines Streites mit Russland über die Versetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Zentrum von Tallinn. Und am 8. Juli dieses Jahres berichtete The Times, dass kremltreue Hacker den größten Cyberangriff gegen Lettland gerichtet haben, den das Land je erlebt hat. Die baltischen Nationen haben außerdem in vorderster Linie miterlebt, was der Ukraine seit 2014 widerfuhr; sie wissen, dass die Mark Twain zugeschriebenen Worte stimmen: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber manchmal reimt sie sich.“
Wie sie sich reimt? Katharina die Große erklärte: „Ich kann meine Grenzen nur dadurch verteidigen, dass ich sie hinausschiebe.“ Wjatscheslaw Molotow erinnerte sich: „Meine Aufgabe als Außenminister war es, die Grenzen unseres Vaterlands zu erweitern.“ Und der damalige Außenminister Maxim Litwinov erklärte 1946 einem CBS-Reporter, selbst wenn der Westen alle territorialen Forderungen der Sowjetunion erfüllen würde, „würde das nur dazu führen, dass über kurz oder lang der Westen mit einem neuen Satz sowjetischer Forderungen konfrontiert werden würde.“ Sehen Sie, was sich reimt?
Was in den vergangenen Jahren geschehen ist, war für alle zu hören und zu sehen. Einige bevorzugten es, den Kopf in den Sand zu stecken. Die baltischen Nationen zogen andere, kraftvolle Konsequenzen: Sie verstärkten ihre Cybersphäre gegen Angriffe und wappneten sich für einen etwaigen Cyberkrieg; sie trieben die Verbindung ihrer Infrastruktur mit dem zentraleuropäischen Schienennetz voran und synchronisierten ihre Stromnetze mit dem der EU; während das Flüssiggas-Terminal im litauischen Hafen Klaipėda sogar schon 2014 betriebsbereit war, sind auch Estland und Lettland auf dem Weg zur Versorgung mithilfe solcher Anlagen. „Der Baltische Weg zur Energieunabhängigkeit von Russland nähert sich seiner Vollendung“, berichtete The Foreign Policy Research Institute, eine in Philadelphia (USA) basierte Denkfabrik, im Mai 2022. Ihr Motto lautet übrigens: „Eine Nation sollte nachdenken, ehe sie handelt.“
Die Geschichte reimt sich wieder und wieder: Was mit der Erklärung von Präsident Truman vor dem US-Kongress im März 1947 begann, in der er erläuterte, dass die Vereinigten Staaten „freie Völker unterstützen, die sich gegen den Versuch wehren, sie durch bewaffnete Minderheiten oder durch Druck von außen zu unterwerfen“, das führte schließlich zum Marshall Plan, zur wirtschaftlichen Integration Westeuropas und zur NATO – ein Dreiklang, der sich überzeugend und organisch entwickelt hat.
Heute lernen einige im Westen aufs Neue, auf die harte Tour, dass die Freiheit und die wirtschaftliche Integration Europas nicht ohne eine starke Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit auskommt. Das haben die baltischen Staaten immer gewusst und niemals vergessen: in Estland und Litauen herrscht Wehrpflicht, in Lettland gilt sie ab 2023. Die baltischen Staaten haben den Kampf der Ukraine für Freiheit und territoriale Integrität auf Pro-Kopf-Basis mehr als jedes andere Land mit militärischer und humanitärer Hilfe unterstützt. Sie haben nachdrücklich die Einigung auf das neue Strategische Konzept der NATO unterstützt, ebenso wie die Verpflichtung der NATO, ihre Reaktionskräfte zu stärken; und natürlich heißen die Balten Finnland und Schweden in unserem Verteidigungsbündnis willkommen.
In Finnland herrscht übrigens ebenfalls seit langem Wehrpflicht, und Schweden hat sie im Jahr 2020 wiedereingeführt. Nach dem Angriff Russlands auf einen souveränen Nachbarstaat in Europa ist es überfällig, dass sich die Europäische Union zu einer echten Verteidigungsgemeinschaft weiterentwickelt.
Und für mich wäre auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland (natürlich mit der Möglichkeit des Ersatzdienstes) eine ratsame Konsequenz. Das würde unsere Verteidigungsfähigkeit stärken, aber auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Demokratie.
Seit die Krise sich verschärfte und vor allem seit Russland seinen Angriffskrieg begann, sind die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der baltischen Staaten begehrte Ratgeber und Interviewpartner zu Fragen der Strategie geworden. Ihre baltische Botschaft ist klar: Die Geschichte Europas darf sich nie wieder auf Vorgänge reimen mit Ereignissen wie im September 1938 in München, als die westlichen Demokratien ein weiteres Zugeständnis an Nazideutschland machten, oder im August 1939 in Moskau, als sich Stalin und Hitler gegen ihre Nachbarstaaten verschworen, oder Tage später in Polen, als der deutsche Angriffskrieg begann. Stattdessen muss sich unsere Geschichte darauf reimen, wie eine großartige Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ein freies, prosperierendes und widerstandsfähiges Europa aufgebaut und das transatlantische Verteidigungsbündnis geschmiedet hat. Auch für diese klare baltische Botschaft sind wir voller Dank und Anerkennung.
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
wir sind mit den baltischen Nationen verbunden durch die geteilte Liebe zur Freiheit und ein gemeinsames Gefühl der Zusammengehörigkeit. Lassen Sie uns alle auch verbunden sein durch Wachsamkeit, Weitsicht und Wehrhaftigkeit.
Vielen Dank.