Eine gute Globalisierung für Alle

Ansprache bei dem Festakt zu Ehren von S.E. Kardinal Kasper
Vallendar, 9. März 2013



Mit großer Freude und mit leiser Unruhe, so habe ich die Einladung angenommen, bei dem heutigen Festakt zu sprechen. Doch zunächst möchte auch ich gratulieren: Herzlichen Glückwunsch, verehrter Kardinal Kasper, zum Erreichen eines Alters, das wir Menschen dem Psalmwort nach nur erreichen, wenn „Kraft uns beschieden“, und alles Gute, auch für Ihre nächste große Aufgabe in Rom.

Sodann noch ein wenig genauer zu meiner Gefühlslage: Mit großer Freude habe ich die Einladung hierher angenommen, weil selbst ich als theologischer Laie ahne, welch großen und wertvollen Beitrag Kardinal Kasper über die Jahrzehnte zum Wohl der Kirche und zur Einheit der Christenheit geleistet hat. Da bin ich gern unter den Gratulanten. Mit großer Freude auch deshalb, weil ich eine gewisse Verbundenheit zwischen uns zu spüren meine, so wie es Verbundenheit zwischen Bauleuten gibt, die an ganz unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlichen Gewerken tätig sind, aber doch am selben Gebäude arbeiten.

Und mit leiser Unruhe kam ich hierher, denn – ich erwähnte es schon – ich bin nun einmal theologisch Laie, und das wird mir bei einem Redeanlass wie dem heutigen wieder so recht bewusst. Vielleicht vermehrt es die Unruhe sogar noch, dass ich evangelischer Laie bin, und zwar einer, der die von den Theologen bedachten Fragen wichtig findet und wünschte, darüber selber völlige Klarheit zu gewinnen, der aber weder die Zeit findet, sich in ihr Studium zu versenken, noch institutionengläubig oder auch nur phlegmatisch genug ist, um sich schlicht darauf zu verlassen, dass die Theologen das alles schon richtig auslegen und zusammendenken werden und also auch in Glaubensdingen Arbeitsteilung am produktivsten ist.

Arbeitsteilung – schon bin ich bei einem Begriff aus dem Bereich gelandet, in dem ich mich besser auskenne. Für mich als Ökonomen hat es durchaus seinen Reiz, ökonomische Begriffe auch einmal in munere alieno anzuwenden, zum Beispiel auf die Theologie. Auf eine solche Anwendung bin ich neulich bei Peter Sloterdijk gestoßen. Ich weiß gar nicht, wie wohlgelitten er als Philosoph bei der katholischen Kirche ist, aber was er da geschrieben hat, das ließ mich an den theologischen Dogmatiker Kasper denken. Sloterdijk meint, es ließen sich eine angebotsorientierte und eine nachfrageorientierte Religion und Auslegung unterscheiden. Natürlich kann das nur eine sehr vereinfachende Unterscheidung sein, natürlich wird es fließende Übergänge geben, aber immerhin: Die angebotsorientierte Theologie stelle in den Mittelpunkt, was Gott gesagt hat und geben will und was der Mensch sich bemühen muss zu verstehen. Das, so Sloterdijk, sei ungefähr die katholische Position. Nachfrageorientierte Religion und Theologie hingegen fragten mehr danach, „womit man den Bedürfnissen der Masse am besten entgegenkomme“, man könnte auch sagen: Wo man die Menschen abholen müsse, welche Inhalte bei ihnen am meisten Nachfrage, Zustimmung und Absatz finden.

Wenn ich diese grobe Unterscheidung zugrundelege, dann gehören meine Sympathien klar der Angebotstheorie des Glaubens. Religion und Theologie müssen mehr sein als ein Wellness-Produkt unter vielen, sonst verlieren sie die nötige Ernsthaftigkeit und werden beliebig, sonst gehen sie in genau dem Bereich des Ökonomischen unter, mit dessen begrifflichem Werkzeug Sloterdijk an der zitierten Stelle arbeitet. Wie mächtig das Ökonomische ist, wie gut der Markt auch Religiöses verdaut, dafür gibt es ja auf dem Esoterik-Basar reichen Anschauungsunterricht in jeder Preisklasse.

Wenn nun also Angebotstheorie, dann Arbeit am Wort, dann Arbeit am Begriff, dann Anspannung der Vernunft im Dienste der Wahrheit, der veritas, aber einer Wahrheit, die ohne Liebe und Gnade, ohne caritas und cháris, gar nicht zu denken ist.

Die caritas in veritate, so viel weiß sogar ich als Laie, ist das Prinzip, um das die katholische Soziallehre kreist. Ich bekenne mich an dieser Stelle gern zur gelegentlichen Konsultation des Kompendiums der Soziallehre der (katholischen) Kirche; ich erwähne auch gern, wie ich bei der Arbeit an einer Würdigung des Engagements von Bernhard Vogel für Afrika die Enzyklika „Populorum Progressio“ für mich entdeckt habe; und es hat mich nicht überrascht, in der Enzyklika „Caritas in veritate“ von Papst Benedikt XVI. eine Wiederlektüre und Aktualisierung von Populorum Progressio zu finden, jener ersten Sozialenzyklika, die sich ganz der internationalen Entwicklung zuwendet und die begründet, warum der Friedensauftrag der Kirche auch den Ausgleich zwischen Nord und Süd umfasst – und warum Entwicklung der neue Name für Friede ist.

Ich nehme das alles als eine glückliche Bestätigung dafür, wie wichtig die Arbeit am globalen Gemeinwohl auch aus der Sicht der katholischen Kirche ist, und als Bestätigung dafür, dass Theologen wie Kardinal Kasper und Ökonomen wie Horst Köhler wirklich am selben Gebäude bauen.

Dabei ringen sie, scheint mir, mit strukturell ähnlichen Herausforderungen. Der begnadete Dogmatiker Kasper war auch Sekretär, dann Präsident des „Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen“. Das mochte, vermute ich, nicht ganz ohne Spannungen abgehen. Der Dogmatiker ist Mitarbeiter der Wahrheit, und in der Wahrheit ist die Vielfalt endlich. Der Förderer der Einheit braucht den Willen zur Gemeinschaft, und Gemeinschaft setzt eine gewisse Vielfalt voraus, sonst wirkt sie erdrückend. Konnte da also vielleicht manchmal der Dogmatiker der Wahrheit dem Theologen der Einheit ins Gehege kommen? Anders gewendet: Welches dogmatische Minimum braucht die Einheit der Christenheit, um sinnvoll zu bleiben, um nicht in eine Beliebigkeit zu verfallen, bei der am Ende alle Maßstäbe verloren gehen? Und welche geistliche Spannweite sollte der christliche Glaube haben, wie groß und stark dürfen die Flügel sein, auf denen er sich emporschwingt?

Eine solche Spannung zwischen dem nötigen, unaufgebbar verbindlichen normativen Kern und der gelebten Vielfalt ist mir jedenfalls aus dem Bereich der internationalen Politik wohlbekannt. Da gibt es die Spannung zwischen den unverzichtbaren und wünschenswerten Regeln der Globalisierung auf der einen Seite (wie es zum Beispiel ein wirksames Klimaschutzrecht und ein völkerrechtliches Verbot ungleicher, sittenwidriger Verträge wären) und der wünschenswerten Einheit der Menschheit auf der anderen. Nun könnte man meinen: Die gemeinsam anerkannten Regeln begründen gerade die Einheit, und die Einheit verlangt gerade die Regeln, da wird sich doch gewiss ein konstruktives Einvernehmen herstellen lassen. So einfach ist es aber leider nicht. Die Regeln, auf die die Menschheit angewiesen ist, haben – wenn es denn wirklich Regeln sind, wenn sie beachtet und durchgesetzt werden – eine Verteilungswirkung. Die Regeln der Globalisierung, die wir brauchen, müssen guten Zielen dienen. Sie sollen allen Nationen der Welt gerechte Chancen geben und dafür sorgen, dass die Schwachen Hilfe erfahren und die Starken gebändigt werden. Nur leider: Je wirksamer die Regeln dafür, desto mehr schwindet die Zustimmung Aller, die Einheit. Ein siegreicher Gallierführer hat einst sein Schwert in die Waagschale geworfen, um die Last der Besiegten zu erhöhen. So werfen noch immer viele Staaten und Regierungen ihr wirtschaftliches und militärisches Gewicht in die Waagschale, um das rechte Maß zu verderben und mehr zu erlangen, als ihnen mit Blick auf die Schwächeren gerechterweise zustünde. Lassen sich dagegen Regeln aufrichten, wo doch schon der Prozess der Setzung dieser Regeln durch die ungleiche Größe und Stärke der an der Regelsetzung Beteiligten verzerrt zu werden droht und oft genug verzerrt worden ist, bis heute? Oder schaffen wir das nicht, und erreichen wir eine über das Tatsächliche, das Planetarische hinausgehende Einheit der Menschheit allenfalls in Teilbereichen, zum Beispiel medial und verkehrstechnisch, aber eben nicht, wo es um veritas und caritas geht, um das normative Fundament der Gemeinschaft?

Das sind so Fragen und Ungewissheiten beim Nachdenken über eine gute Globalisierung für Alle. Die Praxis lehrt Skepsis: In der Politik, und in der internationalen Politik noch gar, da haben Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeitsliebe nach meiner Wahrnehmung noch keine besonders starke Bastion. In Theodor Fontanes Buch „Der Stechlin“ beschreibt Pastor Lorenzen dem alten Dubslav von Stechlin eine gewisse Denkhaltung und Handlungsweise aus der Kolonialzeit mit den Worten: „Sie sagen Christus und meinen Kattun.“Derartige Heuchelei ist leider gerade auch in den internationalen Beziehungen bis heute weit verbreitet, und sie verkleidet ihre egoistischen Absichten mit allem, was die Weltreligionen, die Kulturkreise und die Weltanschauungen an frommen Formeln nur irgend hergeben.

Wer den staatspolitischen Egoismen bei der Beratung von Zielen und Regeln wenigstens ein kleines Schnippchen schlagen möchte, der kann das zum Beispiel versuchen, indem er eine Kommission unabhängiger Persönlichkeiten beruft. Wenn die klug ausgewählt sind und sich auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen, welche Ziele und Regeln dem globalen Gemeinwohl dienen, dann hat ein solcher Vorschlag auch für die Beratungen der Staaten ein gewisses Gewicht.

Diesen Weg hat jüngst Ban Ki-moon eingeschlagen, der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er hat ein sogenanntes „High Level Panel“ berufen, das sich mit der weltweiten Agenda für die Zeit nach 2015 beschäftigt, wenn nämlich die Frist endet, die sich die Vereinten Nationen im Jahr 2001 für das Erreichen der Millennium Development Goals gesetzt haben.

Seit einigen Monaten arbeite ich an dieser Aufgabe mit, gemeinsam mit 26 Menschen aus aller Welt, aus unterschiedlichen Berufen, Kulturen und Erfahrungswelten. Darüber möchte ich Ihnen ein wenig berichten, als Mitarbeiter an der politischen und rechtlichen Dogmatik der Globalisierung sozusagen, auf die die Einheit der Menschheit angewiesen ist, weil ein bloßes „anything goes“ diese Einheit bedeutungslos macht und zerstört.

Die von Ban Ki-moon berufene Gruppe ist ein Wunderwerk feinmechanischer Proporztechnik: Das beginnt bei der Gleichzahl von Männern und Frauen und ist bei der Drittelung der Herkunftsstaaten der drei Vorsitzenden in Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländer noch lange nicht zu Ende. Das Panel ist eine Art Mikrokosmos, und unsere Gruppe soll darüber hinaus die Netze weit auswerfen in unsere nationalen Gesellschaften und Kulturen. Wir sprechen darum überall mit Wissenschaftlern, mit Jugendorganisationen, mit Vertretern der Kirchen und Glaubensgemeinschaften, und so fort. Bis Ende Mai sollen wir für den VN-Generalsekretär einen Bericht und einen Vorschlag erarbeiten, der „kühn und praktikabel“ („bold and practical“) sein soll. Wir wollen dem Generalsekretär einen gehaltvollen Bericht liefern, damit er im Spätherbst dieses Jahres der Generalversammlung der Vereinten Nationen einen überzeugenden Vorschlag unterbreiten kann, wie der MDG-Prozess erfolgreich fortzusetzen ist, wie – das ist jetzt mein erhofftes Ergebnis – eine Entwicklungspolitik für den ganzen Planeten aussehen sollte.

Unser Ausgangspunkt sind die Millennium Development Goals (kurz: MDG). Sie gehen auf die Millenniumserklärung zurück, die im September 2000 von den 189 Regierungschefs aller damaligen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unterzeichnet worden ist. Sie machten sich damals ehrgeizige Ziele zu eigen für Frieden und Abrüstung, für bessere Lebensverhältnisse in der armen Welt, für den Schutz der gemeinsamen Umwelt und für die Förderung von Demokratie und Menschenrechten. Aber natürlich war auch die Millenniumserklärung zunächst einmal nur ein Stück Papier, und so stellten sich einige politisch gewiefte Mitarbeiter der Vereinten Nationen die Frage, wie man verhindern könnte, dass die Erklärung in der Schublade für gute Ideen verschwände. Als Meister in der Überlebenskunst für Programmpapiere leiteten diese VN-Mitarbeiter aus der Millenniumserklärung acht konkrete internationale Entwicklungsziele ab, die sogenannten Millennium Development Goals. Sie sollten die Millenniumserklärung operationalisieren und ihre Verwirklichung überprüfbar machen. Die acht Ziele griffen allerdings nur Teile der Millenniumserklärung auf: Es geht in ihnen vor allem um die Bekämpfung von Armut und um die Verbesserung des Gesundheitsniveaus und der Schulbildung. Das wohl bekannteste dieser Ziele ist das MDG 1, nämlich den Anteil der in Armut lebenden Menschen weltweit um die Hälfte zu reduzieren.

Zwei Jahre vor Ablauf dieser Frist lässt sich feststellen: Viel wurde erreicht, Vieles leider noch nicht. Die Halbierung des Anteils Armer an der Weltbevölkerung, dabei Armut verstanden als Leben-Müssen mit weniger als ein-ein-viertel US-Dollar pro Tag und Kopf, wird voraussichtlich gelingen, allerdings vor allem dank des Aufschwungs in China und Ostasien, während leider die Lage in Afrika prekär bleibt. Insgesamt leben heute immer noch rund eine Milliarde Menschen in absoluter Armut. Deutliche Erfolge gibt es auch beim Zugang zu sauberem Trinkwasser, bei der Bekämpfung der Kindersterblichkeit, bei der Ausrottung von Malaria und Tuberkulose, bei besseren Bildungsangeboten für alle Kinder. Bei der Müttersterblichkeit dagegen, einem weiteren MDG, sind wir weit von der anvisierten Verbesserung entfernt.

Noch bleiben zwei Jahre Zeit, noch kann viel Gutes geschehen, aber realistischerweise lässt sich schon heute sagen: Einige der acht MDGs werden bis 2015 nicht erreicht, sondern klar verfehlt werden.

Das spricht aber nicht gegen die Ziele. Sie haben die Entwicklungszusammenarbeit geprägt wie kaum eine Agenda zuvor. Sie haben die Entwicklungsanstrengungen fokussiert und die Rechenschaftspflicht der Regierungen gestärkt. Dank MDGs wurde sichtbar und messbar, was gegen Hunger und Armut unternommen wird. Die MDGs sind leicht kommunizierbar und haben die breite Öffentlichkeit weltweit erreicht. Hier in Deutschland erinnere ich nur an die Kampagne „Deine Stimme gegen Armut“, die unter anderem von Herbert Grönemeyer prominent unterstützt wird. Die MDGs haben damit wesentlich dazu beigetragen, die Armutsreduzierung und die menschliche Entwicklung in das Zentrum der internationalen Zusammenarbeit zu rücken. Sie haben zu deutlichen Entwicklungsfortschritten beigetragen.

Auf der anderen Seite der Bilanz muss man festhalten: Die MDGs bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus der Gesamtheit der Entwicklungsthemen ab. Herausforderungen wie Umweltschutz, Friedenspolitik, Schutz der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit bleiben noch immer unterbelichtet, obwohl sie in der Millenniumserklärung eine wichtige Rolle spielen. Ein weiteres Problem der MDGs ist, dass sie blind sind für Ungleichheiten innerhalb von Ländern. Übrigens: auch für Armut und Ungleichheiten in den sogenannten entwickelten Ländern. Und gerade in Indien und in China, wo der Anteil der Armen am deutlichsten sank, ist die soziale Ungleichheit in den vergangenen Jahren besonders stark gestiegen. Eine weitere Schwäche der Entwicklungsziele ist es, dass sie Quantität über Qualität stellen: Bei Ziel Nummer 2 zum Beispiel, nämlich der Einschulung aller Kinder im Grundschulalter, wurden zwar enorme Fortschritte erzielt. Was aber sagt das darüber aus, ob diese Kinder tatsächlich lesen und schreiben lernen, wenn sie in überfüllten Klassenräumen ohne Unterrichtsmaterial von schlecht ausgebildeten Lehrern unterrichtet werden?

Diese Fragen und Erkenntnisse dürfen wir nicht ignorieren, wenn wir prüfen und entscheiden, wie es nach 2015 entwicklungspolitisch weitergehen soll. Zugleich müssen wir berücksichtigen, dass sich die Welt in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten nochmals dramatisch verändert hat.

Die Unterschiede zwischen den Entwicklungsländern haben sich vertieft. Das Spektrum ihrer wirtschaftlichen und staatlichen Verfassungen reicht von „hoffnungsvoll“ bis „gescheitert“. Die Schwellenländer haben sich zu aufstrebenden Volkswirtschaften entwickelt, deren erfreulicher und bewundernswerter Erfolg aber durchaus wieder seine eigenen Probleme mit sich bringt, zum Beispiel beim ungebremsten Ressourcenverbrauch und auch im Klima der internationalen Beziehungen, denen es nicht gut tut, wenn neue Mächte ihre Interessen mit einer Haltung des „Hoppla, jetzt kommen wir!“ verfolgen. Manche Industrienationen der ersten Stunde wiederum sehen sich Problemen gegenüber, die früher allein Entwicklungsländer kannten, zum Beispiel einer gravierenden Staatsverschuldung. Überhaupt ist die gewohnte Einteilung in Geber- und Nehmerländer angesichts neuer starker Akteure auf der internationalen Bühne fragwürdig geworden. Sie entspricht obendrein nicht der Erkenntnis, dass die sogenannten Geber oft zugleich Nehmer des Erfolges ihrer eigenen Hilfe sind. Wenn zum Beispiel die Stärkeren entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit den Schwächeren beim Klimaschutz helfen, dann profitieren sie selber mit von dem globalen öffentlichen Gut eines weniger katastrophengeneigten Klimas.

Bei vielen Menschen haben vor allem die Finanzkrise und die wachsende Zahl der Naturkatastrophen das Bewusstsein für globale Interdependenzen geschärft. Immer mehr Menschen begreifen, dass Armut und Unfrieden, soziale Sicherheit und Umweltschutz, Krieg und Ausbeutung, Zusammenarbeit und Entwicklung eng zusammenhängen und dass wir der globalen Herausforderungen nur Herr werden, wenn wir ganzheitlich denken, wenn wir uns gemeinsame Ziele setzen und wenn wir widerspruchsfreie Regeln dafür finden, wie wir die Welt entwickeln.

Sie erkennen daran schon: Unserer kleinen Schar im High Level Panel werden die Beratungsthemen so schnell nicht ausgehen. Es würde den heutigen Rahmen sprengen, wollte ich über alle Fragen berichten, über die wir in diesen Monaten diskutieren. Stattdessen möchte ich Ihnen gern die zwei Anliegen vorstellen, für die ich mich besonders einsetze.

Erstens werbe ich dafür, den Begriff „globale Partnerschaft“ als Leitmotiv für die internationalen Beziehungen zu verstehen und ihm Inhalt zu geben. Zweitens konzentriere ich mich auf das Thema Bildung, Beschäftigung und Perspektiven für die Jugend.

Ich beginne mit dem zweiten Thema, weil es so handfest ist. Es lässt sich schnell erklären, und dann müsste eigentlich jedem sofort einleuchten, was geboten ist. Die Bevölkerungsforscher – und die Demographie ist eine ziemlich exakte Wissenschaft! – sagen uns: Bereits 2025 wird jeder vierte junge Mensch in der Welt aus Subsahara-Afrika kommen und in etwas mehr als 20 Jahren (2035) wird es in Afrika fast 200 Millionen mehr junge Leute im Alter zwischen 15 und 24 Jahren geben. 200 Millionen junge Leute mehr allein in Afrika, die Arbeit suchen, die ein produktives Mitglied ihrer Gesellschaften werden wollen. 200 Millionen junge, lernbegierige, auf Lohn und Brot angewiesene Menschen mehr in der unmittelbaren Nachbarschaft von uns Europäern. Was werden wir diesen Millionen sagen, wie lautet unsere Botschaft an sie?

Werden wir sagen: „Es ist betrüblich, dass es zu wenig Schulen für Euch gibt und keine Arbeit, dass die vorhandenen Schulen oft jämmerlich ausgestattet sind und dass die vorhandene Arbeit ohne soziale Absicherung ist und oft nur das nackte Überleben sichert.“? Werden wir sagen: „Es ist betrüblich, dass für Viele von Euch die Milizen der Warlords das einzige Beschäftigungsangebot sind und die einzige Aussicht auf einen Napf Reis oder Hirsebrei.“? Werden wir sagen: „Das alles ist betrüblich, doch Ihr müsst bitte verstehen, dass wir gern unsere Autos mit dem bei Euch angebauten Biosprit antreiben, dass wir leider gegen die Überfischung Eurer Küsten wenig tun können, dass wir gern Eure Rohstoffe zu uns exportieren und in unseren beschäftigungswirksamen Industrien weiterverarbeiten, denn anders lässt es sich nun einmal nicht einrichten, oder jedenfalls nicht, ohne dass wir auf so manches verzichten, was uns das Leben bequem macht.“?

Oder müssten wir – und „wir“ nun verstanden nicht allein als Europa, sondern auch als „der Westen“ und die so genannten BRIC-Staaten, nicht erkennen, welches Verderben ein Denken heraufbeschwört, das zu solchen Botschaften führt? Müssten wir nicht auch unsererseits alles daransetzen, um für die jungen Menschen in Afrika und in aller Welt, die sich und ihre Nationen aus der Armut herausarbeiten wollen, Perspektiven zu geben? Gewiss, auch dann bliebe das meiste von diesen und in diesen unterentwickelten Nationen selbst zu tun – sie müssen das Recht und die Eigentumsordnung schützen, sie müssen die Korruption bekämpfen und den wirtschaftlichen Aufbau fördern, sie müssen im Innern und nach außen Gerechtigkeit üben und Frieden halten. Aber wir, müssen wir nicht dabei helfen, all diese Schritte zu unterstützen, und das zuallererst, indem wir entschlossen dabei mithelfen, den Millionen junger Menschen Wege zu öffnen und Hoffnung zu geben?

Ich rede an dieser Stelle gar nicht lange davon, dass auch ökonomisch betrachtet allein dies der vernünftige Weg ist, denn ohne Bildung und Beschäftigung für die kommende Jugend wird weltweit eine möglichst ressourcenschonende Entwicklung unseres Planeten und eine gute Globalisierung für Alle nicht gelingen können. Hinzu kommt: Afrika hat das Potential für einen unglaublichen Aufschwung, und natürlich würden von einem Aufschwung auch alle anderen ihren friedlichen Vorteil haben, das hat die Wirtschaftsgeschichte ein- ums andere Mal bewiesen. Aber nein, mir geht es über das Ökonomisch-Rechnerische hinaus darum, dass der Dreiklang von Bildung, Beschäftigung und Lebenssinn für die Neuankömmlinge in der Globalisierung selbst für diejenigen Nationen das Gebot der Stunde ist, die von den positiven Wirkungen nicht oder jedenfalls vorerst nicht profitieren würden. Es geht mir darum, selbst diejenigen zu überzeugen, die offen oder zwischen den Zeilen entgegnen, mit der Hilfe für diese 200 Millionen und für ungezählte andere „jenseits von Afrika“ schaffe man sich doch bloß unbequeme Konkurrenz auf den Hals. Denen sage ich: „Euer Blick ist noch nicht offen für das, worauf es jetzt weltweit ankommt: für wirkliche Partnerschaft – Partnerschaft, auf die wir womöglich morgen selber dringend angewiesen sind.“

Damit bin ich bei der zweiten meiner beiden persönlichen Akzentsetzungen innerhalb des High Level Panels. Eigentlich liegt auch das Thema Partnerschaft auf der Hand: Die Menschheit teilt sich einen Planeten. Seine Ressourcen sind so endlich, wie die Wechselwirkungen in seiner Biosphäre unendlich sind. Die Weltbevölkerung wächst, aber der Reichtum der Erde ist immer weniger nach Kopfzahl verteilt. Die Konflikte schon allein um das Lebensnotwendige, um Wasser und Nahrung, nehmen zu. Die medial vermittelte Kenntnis selbst der Ärmsten, wie gut, und oft wie unverdient gut es den Reichsten geht, wächst. Inmitten einer Lage, die sich rasch verändert, versuchen wir mit politischen Begriffen und Vorstellungen Ordnung zu stiften, die einerseits vergleichsweise jung sind – der frühneuzeitliche europäische Staat liegt gerade einmal 500 Jahre zurück, auch wenn er weltweit eine staunenswerte Karriere hingelegt hat – und andererseits vergleichsweise alt, denn die herkömmlichen Vorstellungen von politischer Macht und Gloria verfehlen immer öfter eine physikalische und politische Wirklichkeit, die sich der Beherrschung durch einzelne Staaten längst entzieht.

Darauf lässt sich, grob unterschieden, auf zweierlei Weise reagieren: Entweder nach dem Motto „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ Das klingt lustig, aber es führt in den Untergang – erst einiger, dann sehr Vieler. Oder nach dem Motto: „Wenn alle immer auch an alle anderen denken, erst dann ist wirklich an alle gedacht.“ Das ist ein Motto für Partnerschaft.

Was die Welt jetzt braucht, sind Vertrauen, Respekt und Zusammenarbeit zwischen den Staaten und Nationen und zwischen den Kulturen und Religionen. Was die Welt jetzt braucht, ist eine allseitige Besinnung darauf, wie die gemeinsamen Interessen der Menschheit lauten und wie sich gemeinsam an ihnen arbeiten lässt, verbunden durch gemeinsame Ziele, Werte und Regeln.

Auch das setzt viel Arbeit am Begriff und Suche nach Wahrheit voraus. So bemühen sich beispielsweise Institutionen wie das Brookings Institut und die Hertie School of Governance in Berlin seit einiger Zeit darum, den völkerrechtlichen Begriff der Staatensouveränität loszueisen von seinem klassischen Solipsismus und stärker auf Kooperation zu trimmen. Sie sprechen von „responsible sovereignty“, von einer verantwortungsbewusst wahrgenommenen Staatensouveränität, wie man auch von „smart sovereignty“ sprechen könnte, von den politischen Klugheitsregeln und Rücksichtnahmegeboten für zeitgemäßes staatliches Handeln. Deren Wirkung klingt ein wenig paradox: Wer die Souveränität, von der ja vielen Staaten in vielen Zusammenhängen fast nur der Name geblieben ist, klug und verantwortungsbewusst einsetzt und zur Kooperation nutzt, der erschöpft sie nicht noch mehr, sondern der erschließt sich als Staat neue Bedeutung und Reichweite.

Diese und ähnliche Studien verstehen sich nach meinem Eindruck angebotsorientiert, nicht nachfrageorientiert. Sie bemühen sich, der Politik und den Gesellschaften das Gebotene vor Augen zu stellen, nicht das Bequeme. Sie verstehen sich als Beitrag zu einer Ent-Täuschung und wohl auch Rückbesinnung, denn die ist nötig, auch und gerade im Westen.

Denn mit Blick auf die Fehlentwicklungen der Globalisierung, ich nenne nur Stichworte wie Arbeitnehmerrechte in armen Ländern, Finanzkapitalismus und Schuldenkrise, sind ja viele grundsätzliche Fragen fällig an den westlichen Way of life, an unseren Lebensstil und unsere Art zu wirtschaften und zu konsumieren, ja an unsere Wertebasis, und damit sind einmal nicht die börsennotierten Werte gemeint. Wer darüber nachdenkt, der kommt schwerlich um die Diagnose herum, dass bei uns im Westen manches auf Irrwege geraten ist, und das nicht allein ganz oben in den Bankentürmen, sondern auch in der Breite der Gesellschaft.

Bei solchen Betrachtungen stößt nun aber der Christ auf einen ebenso wichtigen wie ermutigenden Befund. Dasselbe nämlich, was uns innerhalb unserer eigenen Gemeinschaften und Gesellschaften Halt zu geben vermag, dasselbe ist auch für die weltweite Partnerschaft unverzichtbar: eine Kultur, in der die Wahrheit und die Nächstenliebe großgeschrieben werden.

Eine solche Kultur hat das Christentum ausgebildet, und seine Kultur hat weltweit eine ungemeine Wirkmacht entfaltet. So sind im modernen Menschenrechtsdenken die jüdisch-christlichen Wurzeln unverkennbar stark, und die christliche Soziallehre hat viele Gesellschaftsmodelle tief geprägt, die in ihrer Verbindung von Leistungskraft und Solidarität Menschen in aller Welt vorbildlich erscheinen.

Eine etwas trockene Definition von Kultur lautet, Kultur sei in der Moderne eine Frage des Vergleichs. An Kultur lasse sich ablesen, was verloren und was gewonnen wurde im Lauf der Geschichte. Kultur werde vorgelebt, damit wir vergleichen und uns orientieren können, was uns frommt.

So betrachtet, gewinnen die (auch) in Europa gewachsene christliche Kultur und ihr Dialog mit den anderen Weltkulturen eine auch politisch große Bedeutung. Christliche Kultur ist vorpolitisch, aber nicht unpolitisch. Sie stiftet eine Orientierung auf Wahrheit und Nächstenliebe, die für den einzelnen und für ganze Gesellschaften heilsam sein kann. Christliche Kultur ist ein steter Anstoß zur Selbstprüfung, zur Selbsterkenntnis, wenn nötig zur Umkehr, und sie ist ein Anstoß dazu, sich unseren Nächsten zuzuwenden und partnerschaftlich mit ihnen zusammenzuwirken, daheim so gut wie weltweit.

Christliche Kultur ist darum besonders gesprächsbereit und fruchtbar für den Dialog der Kulturen und für das, was Hans Küng das „Projekt Weltethos“ nennt. Ich weiß, dieses Projekt stößt nicht bei allen Katholiken auf enthusiastische Zustimmung. Umso mehr habe ich mich darüber gefreut, bei Kardinal Ratzinger, wie er damals hieß, mit Blick auf das Projekt und in Zusammenhang mit der guten Gestaltung der Globalisierung zu lesen:

„So ist die Frage von hoher Dringlichkeit, wie die sich begegnenden Kulturen ethische Grundlagen finden können, die ihr Miteinander auf den rechten Weg führen und eine gemeinsame rechtlich verantwortete Gestalt der Bändigung und Ordnung der Macht aufbauen können.

Dass das von Hans Küng vorgetragene ‚Projekt Weltethos‘ einen solchen Zuspruch findet, zeigt auf jeden Fall an, das die Frage aufgerichtet ist. Das gilt auch dann, wenn man die scharfsichtige Kritik akzeptiert, die Robert Spaemann an diesem Projekt geübt hat. Denn (…): Im Prozess der Begegnung und Durchdringung der Kulturen sind ethische Gewissheiten weithin zerbrochen, die bisher tragend waren. Die Frage, was nun eigentlich (…) das Gute sei, und warum man es, auch selbst zum eigenen Schaden, tun müsse, diese Grundfrage steht weithin ohne Antwort da.“

Auch in diesem Sinne verstehe ich Partnerschaft als das neue Paradigma der Zusammenarbeit, als Gebot, miteinander das Gute zu tun, auch selbst „zum eigenen Schaden“. Darum teile ich Hans Küngs Einschätzung, dass ein globales Zeitalter eine globale Ethik verlangt. Damit ist keine neue Ideologie oder Religion gemeint, sondern ein Grundbestand an Verhaltensweisen, die sich auf zwei grundlegende Prinzipien beziehen, welche in allen Kulturen und Weltreligionen zu finden sind: Humanität und Reziprozität. Das Prinzip der Humanität besagt, dass jeder Mensch human behandelt werden muss, weil er eine ihm innewohnende Würde hat. Die goldene Regel der Reziprozität fördert gegenseitige Verantwortung, Solidarität, Fairness, Toleranz und Respekt für andere: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“.

Noch einmal zurück zu Kultur als dem Vorgelebten, das es uns ermöglicht, zu vergleichen, uns zu orientieren und zu wählen. Wer unsere heutige Lage überblickt, der erkennt, wie wichtig eine starke, selbstbewusste, die Menschen inspirierende und gewinnende christliche Kultur für uns alle ist. Diese christliche Kultur muss sich auch im Ringen um die Einheit der Christenheit bewähren, denn sie wird desto überzeugender sein, je mehr Wahrheit, Nächstenliebe und Übereinstimmung auch zwischen den christlichen Kirchen und Konfessionen herrschen. Zum Salz der Erde werden die Christen durch Mission, und ihre Mission ist nicht allein die frohe Kunde, von der sie Zeugnis ablegen können, sondern auch das gute Beispiel, das sie mit ihrer von dieser frohen Kunde geprägten Lebensweise geben, auch in der Weise, wie sie miteinander umgehen. Auch darum muss allen Christgläubigen die Ökumene ein Herzensanliegen sein und ein Vernunftgebot.

Das nimmt die Spannung zwischen dem dogmatischen Ringen um die Wahrheit und dem Bemühen um die Einheit nicht weg, ich weiß, aber sollte es sie nicht unterrichten und orientieren? Sollte nicht alle Dogmatik immer mit einem Tropfen Irenik gesalbt sein? Und sollten auf der anderen Seite nicht manche Christen, die es derzeit allzu nachfrageorientiert bunt treiben, wieder mehr danach fragen, was der christliche Glaube zu bieten hat, wenn man ihn beim Wort nimmt? Für den einzelnen Christen geht es um seine Seele. Im Weltmaßstab geht es um die Frage, ob der politische Westen mit seiner christlichen Kultur nur ein weiteres politisch-ideelles Gebilde ist wie schon andere mehr in der Geschichte, oder ob er ein Werkzeug der Heilsgeschichte ist. Da, so erscheint es mir, berühren sich die Sphären des Kirchlichen und des Weltlichen, da bauen der Politiker der Globalisierung und der Theologe der Weltreligion wirklich am selben Werk. „Mitarbeiter der Wahrheit“ – ein wenig sind wir es hoffentlich alle.

Herzlichen Dank, und Ihnen, verehrter Herr Kardinal Kasper, alles Gute und Gottes reichen Segen. Ad multos annos.