Verleihung des Weltwirtschaftlichen Preises des Institutes für Weltwirtschaft

Dankesworte anlässlich der Verleihung des Weltwirtschaftlichen Preises des Instituts für Weltwirtschaft
Kiel, 18. Juni 2017



Im Januar 1981 kam ich als Referent für Verkehrspolitik des Landes Schleswig-Holstein und wirtschaftspolitischer Redenschreiber für den damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg nach Kiel. Die Tage waren lang, der Ministerpräsident war fordernd und die Schleswig-Holsteinische Landespolitik nicht ohne Tücken. Ich habe in diesen zwei Jahren viel gelernt – nicht zuletzt auch vom damaligen Präsidenten des Instituts für Weltwirtschaft, Prof. Herbert Giersch, den ich regelmäßig in dem prächtigen Haus an der Kieler Fjörde besuchte, um mich wirtschaftspolitisch aufzufrischen. Bis heute, lieber Herr Prof. Snower, ist so bei mir nicht nur ein Interesse, sondern auch ein gehöriger Respekt für die Arbeit des Instituts für Weltwirtschaft geblieben. Und deshalb nehme ich diesen Preis mit viel Dankbarkeit entgegen für das, was ich hier lernen durfte, und auch mit ein bisschen Wehmut für meine Kieler Zeit.

„Weltwirtschaftlicher Preis“, das klingt im Jahr 2017 – wer hätte das gedacht – fast ein bisschen trotzig. Die Idee, dass die Wirtschaft in einen globalen Zusammenhang eingeordnet ist, diese Idee, die den größten Wohlstandsschub in der Geschichte der Menschheit ausgelöst hat, sie muss plötzlich verteidigt werden gegen jene, die von „economic nationalism“ träumen und sich zurückziehen wollen hinter Mauern. Wir brauchen uns keine Illusionen zu machen, wie gefährlich das Verächtlichmachen von internationaler Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik ist. Wir sollten uns aber auch keine Illusionen darüber machen, dass die gigantischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht nur der Verteidigung sicher geglaubter Werte bedarf, sondern auch eines radikalen Neudenkens und Umdenkens in vielen Bereichen.

Denn die globalisierte Moderne hat Widersprüche und Paradoxien geschaffen, eine Gleichzeitigkeit von Kreation und Destruktion, an der unsere Zeit zu zerbrechen droht: in China haben sich über eine halbe Milliarde Menschen aus der Armut befreit, aber die chinesischen Stadtbewohner drohen an den ökologischen Folgen dieses Wachstums zu ersticken. Der Abstand zwischen vielen armen und reichen Ländern ist geringer geworden, aber der Abstand zwischen den Armen und den Reichen innerhalb der meisten Gesellschaften größer. Die Digitalisierung schafft völlig neue Wirtschaftszweige und verbindet den Planeten in nie gekanntem Ausmaß, vernichtet aber gleichzeitig Arbeitsplätze, von denen noch niemand weiß, ob und wo sie neu entstehen. Im schrumpfenden Europa lebt die reichste Rentnergeneration aller Zeiten, während in Afrika eine immer schneller wachsende Jugendbevölkerung immer ungeduldiger nach Perspektiven sucht.

Ich glaube, dass Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sich noch viel stärker als bisher der zentralen Frage dieses Jahrhunderts stellen müssen: Wie können alle Menschen in Würde leben, und zwar ohne dass dabei der Planet zerstört wird?

Diese historische Aufgabe wird nur zu lösen sein, wenn Wirtschaft und Gesellschaft weltweit ernst machen mit einer Großen Transformation – also einen grundlegenden Wandel der Art, Wohlstand zu produzieren und zu verteilen; eine Transformation, die in ihrer Dimension vergleichbar ist mit dem Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert.

Ein politischer Rahmen und die Ziele für diese Transformation liegen mit der 2030 Agenda für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und dem Pariser Klimavertrag gottlob bereits vor. Und, meine Damen und Herren, ich bin mir ziemlich sicher, dass auch die einsame Entscheidung eines US-Präsidenten nichts daran ändern wird, dass die Menschheit auf diese Transformation zusteuert.

Aber ein Selbstläufer ist das natürlich nicht. Und wir müssen dafür den Vereinten Nationen jede denkbare Unterstützung geben.

Wir müssen uns aber auch von so manch alten Denkmustern verabschieden, insbesondere von einem großen Missverständnis. Damit die Transformation gelingen kann, müssen wir ganz neu über ein Konzept nachdenken, das wie kein anderes unseren Blick auf Wirtschaft und Politik prägt, ein Konzept, das fast schon magische Kraft zu besitzen scheint, und alle Arten von Problemen auf wundersame Weise zu lösen vermag: ich spreche vom Wirtschaftswachstum.

Wachstum ist das Mantra der Moderne. Firmen müssen wachsen. Volkswirtschaften müssen wachsen. Ja, sogar Demokratien müssen wachsen, weil wir die Lösung von Verteilungskonflikten längst abhängig gemacht haben von dem viel zitierten wachsenden Kuchen. Die Wachstumsfixierung von Politik und Wirtschaft ist dort am augenfälligsten, wo sie zur Wachstumsratenfixierung degeneriert und sich somit endgültig als Selbstzweck entlarvt: beim G20-Gipfel in Australien 2014 war das zu beobachten, als die Staats- und Regierungschefs sich gegenseitig eine um 2 Prozentpunkte höher liegende Wachstumsrate für die kommenden 5 Jahre in die Hand versprachen. Dabei wurde mir schon als Student ordnungspolitisch eingebläut, dass aggressive staatliche Wachstumsratenpolitik in sich selbst schon den Anfang von wirtschaftlichem Niedergang bergen kann. Tatsächlich droht sich jetzt ja fast eine politische Kultur der finanz- und geldpolitischen Dauerstimulierung festzusetzen. Damit könnte die nächste Schulden- und Finanzkrise vorprogrammiert sein.

Und auch die ökologische Krise wird durch unser Wachstumsmantra immer weiter befeuert, denn es ist bisher ja nicht gelungen, das Wachstum vom Verbrauch fossiler Ressourcen zu entkoppeln. Wachstumsratenfetischisten neigen dazu, die ökologische Perspektive systematisch zurückzusetzen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: ich bin kein Wachstumsgegner. Ich glaube aber, dass wir uns politisch zwei Fragen stellen müssen: Was soll wachsen – und wo soll es wachsen?

Zuerst zum „wo“: Wachstum braucht es vor allem dort, wo den Menschen das Nötigste fehlt, also in den Entwicklungsländern. Warum ist Afrika nicht schon längst ein neuer Pol für weltwirtschaftliches Wachstum geworden? Das Potential dazu ist aufgrund der Demographie des Kontinents und seiner immensen natürlichen Ressourcen allemal vorhanden. Das entscheidende Defizit ist fehlender politischer Wille, die entsprechende Gestaltung förderlicher politischer Rahmenbedingungen anzugehen – zuallererst natürlich in Afrika selbst. Aber nicht zuletzt auch in Europa fehlt es an politischem Willen: Ich denke zum Beispiel an die Unterstützung für den Aufbau einer arbeitsplatzschaffenden verarbeitenden Industrie in Afrika durch bessere Handelsverträge mit Europa; oder an bessere Finanzierungsbrücken von den reichen, alternden Gesellschaften in Europa zu den jungen, investitionshungrigen Gesellschaften in Afrika. Es ist möglich, das Blatt zugunsten starken beschäftigungsfördernden Wachstums in Afrika zu wenden.

Uwe Sunde von der Universität München hat übrigens in einer plausiblen bevölkerungswissenschaftlichen Studie aufgezeigt, dass historisch für Afrika jetzt ein „lift off“ anstünde, währenddessen ein trendmäßiger Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten der Industrieländer praktisch unvermeidlich sei. Diese Forschungsergebnisse bieten hilfreiche Orientierung für eine strategisch angelegte Weltwirtschaftspolitik, die in ihrer Substanz eine Friedens- und Entwicklungspolitik ist. Ja, ich denke eine Weltwirtschaft, die sich in den nächsten zwei Jahrzehnten mit Wachstumsraten – sagen wir – von 5-7% für die Entwicklungsländer, von 3-5% für die Schwellenländer und von 1-2% für die Industrieländer entwickeln würde, sollte uns im Prinzip gut schlafen lassen. Tatsächlich rechnet die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht damit, dass die Rate für das Potenzialwachstum in Deutschland bis 2025 sogar unter 1% sinken wird. Das hat meines Wissens bisher keine Aufregung ausgelöst. Diese Gelassenheit ist angesichts des allgemeinen Wohlstandsniveaus in Deutschland einerseits berechtigt. Andererseits sollten wir Gelassenheit nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln und niedrige Wachstumsraten nicht mit Stillstand. Ich glaube, dass schon die Sicherung eines langfristigen Wachstumspfads von 1% in Deutschland eine höhere gesamtwirtschaftliche Investitionsquote verlangt, als wir sie gegenwärtig fahren. Und eine höhere gesamtwirtschaftliche Investitionsquote wäre auch zu einer mutigen Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele der VN allemal nötig.

Das führt uns zur Frage, was da eigentlich wachsen soll. Wir brauchen ja weiterhin Innovation und Fortschritt, um die vielfältigen Probleme unserer Zeit zu lösen. Aber wir brauchen sie in die richtige Richtung! Manche Sektoren müssen schrumpfen oder verschwinden, da gehört die Kohleindustrie sicherlich dazu, und wir wissen doch alle, dass auch dem Verbrennungsmotor nicht die Zukunft gehört. Demgegenüber sollten vor allem die wissenschaftliche Forschung und alle Wirtschaftsaktivitäten wachsen, die die notwendige Dekarbonisierungs- und Effizienzrevolution vorantreiben.

Ich glaube, dass die Realität trendmäßig sinkender Wachstumsraten im globalen Norden, und die ökonomische, ökologische und politische Notwendigkeit, mehr Platz für Wachstum im globalen Süden zu schaffen, vor allem auch eine Chance sein kann, neu zu entdecken, was Wohlstand, was Lebensqualität wirklich ausmacht; neu zu entdecken, was in unserem Leben wirklich Sinn stiftet und Glück bringt. Und das sind vor allem jene Dinge, die keinen Preis haben: zwischenmenschliche Beziehungen, Empathie, Muße, Kunst. Das alles kann und darf wachsen, und zwar grenzenlos. Und deshalb ist die Aussicht auf eine Weltwirtschaft, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Formen wächst, auch kein Nullsummenspiel und kein Verzichtsszenario. Sondern es kann uns alle reicher machen. Immanuel Kant erinnert uns daran, dass der Mensch eben dadurch, dass er keinen Preis hat, etwas viel Wertvolleres besitzt, nämlich: Würde.

Meine Damen und Herren,

es gehört zum Kreuz des modernen Menschen, all die Widersprüche, die unsere Moderne produziert, auch aushalten zu müssen. Das überfordert viele. Und deshalb ist wie nie zuvor die Politik, aber auch die Wissenschaft gefragt, einen produktiven Umgang mit diesen Paradoxien zu finden, die sich nie ganz werden auflösen lassen – eben keine leichten Antworten zu geben, sondern zu ringen mit den komplexen Gebilden, mit den Reibungspunkten, und mit der Vielfalt der Perspektiven zu kreisen um ein Problem, bis die verschiedenen Anforderungen in ein neues Gleichgewicht kommen. So kann die große Transformation gelingen. Am Institut für Weltwirtschaft hier in Kiel wird vielfältig weitergedacht. Dafür sind wir Ihnen alle dankbar.

Ich wünsche Ihnen im Institut und uns allen weiterhin Lust an diesem Kreisen, Freude an der Vielfalt, am Widerspruch, am In-Frage-Stellen – und Mut zum Wandel.

Vielen Dank.