Ansprache zur Übernahme des Vorsitzes des Kuratoriums der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung
Freiburg, 17. November 2013
I.
Im fünften Kapitel von „Die Verfassung der Freiheit“ schreibt Friedrich August von Hayek: Menschen für eine freie Gesellschaft zu erziehen, das verlange nicht allein, sie gut auszubilden, sondern man müsse ihnen auch die Fähigkeit mitgeben, ihr Können jenen zur Kenntnis zu bringen, die daraus den größten Nutzen ziehen können.
Hayek selbst hat die Fähigkeit bewiesen, seine Erkenntnisse möglichst nutzbringend zu verbreiten. Gleich sein Buch „The Road to Serfdom“ tat das so wirksam, dass es davon binnen kurzem eine Reader’s-Digest-Fassung mit einer Auflage von fast neun Millionen gab, und später sogar eine Comic-Version. Allerdings hat Hayek auch erlebt, wie ärgerlich erfolgreich auf dem Markt der Ideen und Konzepte Konkurrenten sein konnten – ein gewisser John Maynard Keynes zum Beispiel. Der Wettbewerb zwischen den wirtschafts- und ordnungspolitischen Wegweisern endet nie.
Hayek wusste außerdem: In diesem fortwährenden Wettbewerb können Erkenntnisse, die für eine freie Gesellschaft besonders nützlich und wertvoll sind, in den Hintergrund und in Vergessenheit geraten. Seine „Verfassung der Freiheit“ war nicht zuletzt der Versuch, das Denken von Liberalen wie Tocqueville, Acton, Burke, Macaulay und Gladstone vor diesem Schicksal zu bewahren. Ihre Erkenntnisse sollten weiter nützlich sein können, darum lieh ihnen Hayek seine Stimme.
Auch Hayeks Denken kann und soll weiter nützlich sein für unsere Gesellschaft. Er selber kann dafür im Wettbewerb der Ideen nicht mehr sorgen. Andere müssen auf sein Werk aufmerksam machen. Wir können es tun.
Darum ist die Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung wichtig. Und darum habe ich gerne „Ja“ gesagt, als Roman Herzog mich bat, von ihm den Vorsitz im Kuratorium der Hayek-Stiftung zu übernehmen.
II.
Was lässt sich von Hayek lernen? Darauf wird jede und jeder ein wenig anders antworten, je nach beruflichem Herkommen und abhängig davon, unter welchen Aspekten man Hayeks Leben und Werk genauer betrachtet. Mein eigenes Hayek-Studium liegt Jahrzehnte zurück, auch wenn seit jener Zeit „Die Verfassung der Freiheit“ ihren festen Platz in meiner Handbibliothek und wirtschaftspolitischen Hausapotheke hat. Als Kuratoriumsvorsitzender werde ich ihm nun wieder näher rücken – das ist Ehrensache, und darauf freue ich mich auch. Ich spreche also heute nicht als Hayek-Fachmann; aber ich kann meine Vorfreude begründen.
Hayek lehrt intellektuelle und konzeptionelle Integrität. Sein Werk zeugt von wissenschaftlicher Gründlichkeit, von Durchdachtheit aller Teile und Zusammenhänge und von dem Willen, redlich darzustellen, was er von der Welt weiß. Er ist sich dabei, ausgehend von psychologischen und erkenntnistheoretischen Grundfragen, der Grenzen dessen bewusst, was Menschen überhaupt wissen und bedenken und in ihrem Zusammenleben organisieren können. Das hat ihn einerseits zu seiner Haltung der intellektuellen Demut und Skepsis geführt und andererseits zu der epochalen Einsicht, wie entscheidend für das Wohlergehen einer Gesellschaft es ist, das in ihr tausendfach zerstreute Wissen möglichst flexibel und effizient zu organisieren – und zwar gerade nicht durch zentrale Planung, sondern durch möglichst viel Freiheit für alle und durch ein möglichst wenig verzerrtes Preis- und Wettbewerbssystem. Und er zeigte umgekehrt, wie zentrale Planung nicht nur wirtschaftlich versagen muss, sondern aus ihren Zwangsläufigkeiten heraus allmählich alle Freiheit des Individuums aufzehrt, verbietet und vernichtet.
Wo manche seiner Zeitgenossen am liebsten in den ganz großen Zusammenhängen schwelgten, in Aggregaten, Durchschnittswerten und weltwirtschaftlichen Gesamtschätzungen, da fragte Hayek statt dessen konsequent von der Mikroebene her, gerade weil auf ihr so viel unordentliche Fluktuation und Komplexität herrschen. Er hatte eine lebensnahe Vorstellung davon, wie viel zum Beispiel zusammenkommen muss, um ein Unternehmen in Schwung zu halten – von den Rohstoffen bis zum Betriebsfrieden, vom wetterfesten Fabrikdach bis zur guten Wartung der Maschinen – und wie viel davon nicht ein- für allemal geplant werden kann, sondern von dem Wissen und Können aller möglichen Beteiligten und Fernstehenden abhängt, von günstigen Gelegenheiten und von einem effizienten Informationssystem (dem Preis), das schnell und klar mitteilt, was in der Fabrik und von der Fabrik gerade besonders dringend gebraucht wird. Hayek dachte vom wirklichen Leben her, darum sträubte er sich gegen zu viel Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften und gegen das sorglose Hantieren mit pauschalen Blöcken von Investitionen, Vollbeschäftigung und Nachfrage. Er schaute auch nicht allein aufs allgemeine Preisniveau, sondern auf die relativen Preise, und entwickelte eine eigene, monetäre Konjunkturtheorie, die ihn dann in der Weltwirtschaftskrise zum Gegner der Unterkonsumtionstheorien und ihrer Rezepte zur Stimulierung von Konsum und Konjunktur machte. Über all das lässt sich bis heute trefflich streiten, und nicht jeder wird Hayek folgen, wenn er sich strikt gegen konjunkturelle „Kickstarts“ ausspricht oder empfiehlt, das staatliche Währungsmonopol durch private Angebote aufzulockern. Aber mit Hayek lohnt es sich zu ringen, denn seine Antworten sind Teil eines durchdachten ordnungspolitischen Gesamtentwurfs, sie haben eine konzeptionelle Integrität, die für jeden ihrer Kritiker die Begründungslast erhöht.
Hayeks Kritiker haben es sich trotzdem oder vielleicht gerade deshalb oft leicht gemacht und seinem ganzen Entwurf nachgesagt, er laufe auf ein bloßes „laissez faire“ hinaus, auf – wie man heute sagt – „neoliberale“ Deregulierung und einen kaum verbrämten Manchester-Kapitalismus. Dieser Vorwurf lässt sich sehr leicht entkräften. Schon „The Road to Serfdom“ enthält Passagen, die zum Beispiel allen in den Ohren klingen müssten, die die Exzesse der Finanzmärkte herbeigeführt und geduldet haben, bis sie uns in die Krise riss. Hayek hatte nichts einzuwenden gegen griffige Wettbewerbsregeln, staatliche Maßnahmen zur sozialen Sicherheit und eine Grundsicherung gegen Lebensrisiken wie Krankheit und Arbeitslosigkeit. Was er aber tatsächlich ablehnte, das war interventionistische Kurpfuscherei, das waren verzerrende Eingriffe in den Preis- und Marktmechanismus. Solche Eingriffe litten aus seiner Sicht an derselben Anmaßung von Wissen wie die zentralplanerischen Phantasien; sie litten unter der falschen Vorstellung, es gäbe (und sei es mit ein wenig Nachhelfen) grundsätzlich vollkommene Märkte mit einem solch hohen Niveau an objektiven Daten für alle Marktteilnehmer, dass alle sich jederzeit als rationale homines oeconomici verhalten könnten und würden. Dem ingenieurhaften Denken in Gleichgewichtszuständen und Machbarkeiten und der homo-oeconomicus-Engführung hielt Hayek die Warnung entgegen, die Institutionen der westlichen freiheitlichen Wirtschaftsordnung seien mehr gewachsen als gemacht; diese Ordnung lebe mindestens so sehr von spontanem Handeln bei unvollständiger Information wie von Planung und mindestens ebenso sehr von Wissens- wie von Arbeitsteilung; und der freie Markt entdecke unbewusst tausendmal mehr Wissen, das für Wachstum und für den Wohlstand der Nationen wertvoll sei, als es irgendeine Bürokratie jemals zusammentragen und zusammendenken könnte.
Das war niemals ein Plädoyer dafür, das Gewachsene einfach unter Bestandsschutz zu stellen und jede Veränderung und Reform zu bekämpfen. Wer diesen Vorwurf gegen Hayek erhebt, der lese doch bitte in der „Verfassung der Freiheit“ das Schlusskapitel mit der Überschrift „Warum ich kein Konservativer bin“. Die Lektüre lohnt sich übrigens für alle, die an Politik interessiert sind und zum Beispiel ihren Blick auf die hiesigen politischen Parteien schärfen wollen. Hayek bejaht im Gegenteil die beständige Weiterentwicklung der marktwirtschaftlichen Ordnung. Er beharrt aber darauf, dass wir ordnungspolitisch auf den Schultern vieler Generationen stehen. Sie haben die freiheitliche Ordnung für das Wirtschaftsleben und also für das Zusammenleben nicht „mal so eben schnell“ am Reißbrett konstruiert, sondern sich hin getastet zu einem möglichst erträglichen und ertragreichen Miteinander, und sie haben dabei die Erfahrung gemacht, beherzigt und institutionell an uns weitergegeben, dass es am besten ist, dem Menschen möglichst viel Freiheit zur Verwirklichung seiner Ideen zu geben, nicht allein und vielleicht nicht einmal so sehr um seinetwillen, sondern im Interesse Aller.
Diese Freiheit ist allerdings, auch das hat Hayek prägnant herausgearbeitet, nicht etwa Ungebundenheit mit Vollkasko, sie ist kein Recht auf Willkür ohne Rücksicht auf Verluste. Die Hayeksche Freiheit lebt davon, dass die Freien für die Folgen ihres Handelns auch verantwortlich sind. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen, das „Wagen und Winnen“, wie es am Haus der Bremer Kaufmannschaft heißt, aber auch das Handeln und Haften, das Einstehenmüssen für die eigenen Entscheidungen auf dem Lebensweg, im Guten wie im Schlechten. Dieser Nexus widerspricht vielen Geschäftsmodellen in den wohlfahrtsstaatlichen Betreuungsindustrien, in der parteienstaatlichen Klientelpolitik und in Industrie und Dienstleistungen mit ihrer Lust auf Subventionen von Abwrackprämie bis „too big to fail“. Aber was für die alle geschäftsschädigend sein mag, das dient der guten Entwicklung der Gesellschaft als ganzer, und es nimmt den einzelnen Menschen als moralisches Wesen so ernst, wie er es nur immer verdient. Darum hatte Hayek auch da im Grundsatz Recht, wo er von seinen ordnungspolitischen Grundpositionen her manche Fehlentwicklungen in Staat und Gesellschaft mit deutlichen Worten kritisiert hat. Wenn er davor warnt, die Demokratie zu einem Prozess des „Schmieren[s] und Belohnen[s] von unlauteren Sonderinteressen“ verkommen zu lassen, dann muss ich auch an die 2,7 Milliarden Dollar Lobbyausgaben und über 1 Milliarde Dollar Parteienspenden denken, die die Finanzindustrie allein in den USA vor der Finanzkrise ausgegeben hat, um die Deregulierung der Finanzmärkte voranzutreiben – und an die hunderten von Millionen von Dollar jährlich, die seit dem Ausbruch der Krise in den Lobby-Kampf gegen eine angemessene Re-Regulierung fließen.
III.
Die Integrität von Freiheit und Verantwortung – sie lässt sich bei Friedrich August von Hayek studieren. Er zeigt, wie sehr wir Menschen auf die Freiheit des Denkens, Wissens und Handelns angelegt sind und wie gut wir daran tun, dieser Freiheit Raum zu geben und Raum zu lassen. Er will uns nicht für einen Heilsplan oder für ein kollektives Programm gewinnen, sondern dafür, das Leben als bunt und chancenreich anzunehmen und auszugestalten. Sein Werk zielt auf eine Gesellschaft der Freien, der Verantwortungsbewussten, der Unternehmenden. Hayeks Denken verdient Wirksamkeit. Leihen wir ihm unsere Stimme!