„Afrika ist eine historische Aufgabe“

Interview mit der Rheinischen Post
Berlin, 7. Oktober 2016



Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler erklärt im Interview mit unserer Redaktion, wie eng die Zukunft Europas mit dem Schicksal Afrikas verknüpft ist. Er fordert „endlich“ ein Einwanderungsgesetz. Und Köhler verrät auch, dass er seinen Rücktritt als Bundespräsident nicht bereut hat. Von Michael Bröcker und Eva Quadbeck

Das Büro des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler liegt im Herzen Berlins an der Friedrichstraße. Die Räume spiegeln sein Lebensthema: Afrika. Auf dem Boden stehen geschnitzte Skulpturen, die Afrikaner im Alltag darstellen. An den Wänden hängen Korbgeflechte. Eines davon ist ein Geschenk des Präsidenten von Botswana. Horst Köhler ist auch mehr als sechs Jahre nach seinem Rücktritt als Bundespräsident weiterhin ein unermüdlicher Mittler zwischen dem schwarzen Kontinent und Europa.

Mit Afrika verbindet man immer noch Armut, Korruption, Epidemien. Warum geht es auf diesem Kontinent so langsam voran?

Köhler Unser Bild von Afrika sagt mehr über uns aus als über Afrika. Das ist ein riesiger Kontinent mit 54 Ländern und 1,2 Milliarden Bewohnern. Viele Länder haben soziale und wirtschaftliche Fortschritte gemacht, andere stagnieren. Bei so einem extrem vielfältigen Kontinent, noch dazu mit kolonialer Vergangenheit, kann man keine schnellen, linearen Entwicklungen erwarten. Ganz klar: Die Verantwortung für die Entwicklung Afrikas liegt in erster Linie bei den Afrikanern selbst. Aber Afrika ist in einem Prozess der Selbstfindung, und dieser Prozess ist nicht frei von Widersprüchen. Und ich bin fest davon überzeugt, dass der Kontinent ein gigantisches Potenzial für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand hat.

Was heißt das für Europa?

Köhler Wenn sich Afrika positiv entwickelt, profitiert Europa: Der Handel wächst, Arbeitsplätze entstehen, der Migrationsdruck geht zurück. Wenn der Kontinent aber im Chaos versinkt, dann wird das vor allem Europa riesige Probleme bereiten. Deshalb muss Afrika ein Kernthema europäischer Außenpolitik werden. Das ist eine historische Aufgabe, die Europa und der Westen viel zu lange vernachlässigt haben.

Afrika wird in Teilen gerade zur Brutstätte des Terrors.

Köhler Islamistischer Terror ist leider in einigen Regionen Afrikas ein bitterernstes Problem. Krasse Armut und fehlende Bildung machen es möglich, dass der Islamismus bei jungen Menschen verfängt. In weiten Teilen Afrikas leben aber christliche, muslimische und andere Religionsgruppen gut miteinander zusammen. Bildung, berufliche Perspektiven und Teilhabe für junge Menschen können dem Terror die Grundlage entziehen. Da müssen die Afrikaner, aber auch wir, viel mehr investieren.

Im Moment fliehen Hunderttausende dieser jungen Menschen nach Europa.

Köhler Wir sollten unterscheiden zwischen Flucht und Migration. Migration ist das älteste Mittel des Menschen gegen Armut. Fast zwei Drittel der afrikanischen Bevölkerung sind jünger als 24 Jahre, das muss man sich mal vorstellen. Wenn hunderte Millionen junger Menschen dauerhaft in Armut leben, dann kann das auf Dauer nicht gut gehen.

Können wir die einfach alle draußen halten?

Köhler Es darf nicht darum gehen, uns einzumauern, sondern darum, Migration zu steuern, als Teil einer umfassenden Afrika-Strategie. Wir brauchen in Deutschland endlich ein Einwanderungsgesetz, das legale Möglichkeiten zur Migration eröffnet. Unser Asylsystem ist nicht zur Migrationssteuerung geeignet, das ist jetzt hoffentlich allen deutlich geworden. Dabei müssen wir klar machen, dass die Migration auch uns nutzen muss. Sie soll keine Einbahnstraße sein. Wir sollten zum Beispiel stärker afrikanischen Forschern die Chance zum Austausch eröffnen. Jungen Afrikanern müssen wir mehr Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten geben – zum Beispiel durch ein Art Erasmus-Programm für Afrika. Aus vielen Gesprächen weiß ich aber auch, dass die jungen Afrikaner ihren Ländern beim Aufbau helfen wollen. Die haben die Nase voll und wollen Veränderung vor Ort. Das müssen wir unterstützen.

Kriegen wir jetzt die Quittung dafür, dass wir Afrika jahrzehntelang vernachlässigt haben?

Köhler Ja, da ist etwas dran. Wir haben die Bedeutung Afrikas zu lange unterschätzt. Ich will mal die Dimension zuspitzen: Die Entwicklung dieses Kontinents Afrikas ist für den Westen genauso wichtig wie die Verhinderung eines neuen Kalten Krieges mit Russland.

Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble wollen für Afrika viel mehr Geld ausgeben. Wo soll das hin?

Köhler Die Regierung hat erkannt, dass unsere Zusammenarbeit mit Afrika eine ganz neue Qualität braucht. Natürlich können wir mit mehr Investitionen in Afrika mehr erreichen. Wir müssen aber auch überprüfen, welche Ansätze echte Wirkung entfalten. Und Geld allein wird nicht reichen. Wir brauchen eine viel strategischere Wirtschaftspolitik für Afrika, die vor allem darauf ausgerichtet ist, dort Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen.

Eine Mittelstandsoffensive?

Köhler Ja, das sollte ein wichtiger Teil sein. Der deutsche Mittelstand könnte zum Ausrüster des afrikanischen Wachstums werden. Wir haben den Chinesen viel zu lange das Feld überlassen. Dabei genießt die deutsche Wirtschaft in Afrika einen phänomenalen Ruf, nicht nur wegen der guten Qualität, sondern auch, weil sie sich zum Beispiel um Berufsausbildung kümmert. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass unser Privatsektor diese Chancen sieht und in Afrika noch aktiver werden will.

Das finanzielle Risiko für deutsche Firmen ist hoch. Sollen sie es alleine tragen?

Köhler Nein. Wenn sich die deutsche Wirtschaft in Afrika mehr engagiert, benötigen diejenigen, die Geld investieren, um dort Arbeitsplätze zu schaffen, auch Absicherung und Bürgschaften. Man muss einkalkulieren, dass Projekte auch scheitern können. Die Bundesregierung sollte über eine deutliche Ausweitung der Absicherungsinstrumente vor allem für Mittelständler nachdenken. Es geht um ein neues Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft. Der Staat kann Katalysator für private Investitionen sein. Nur so werden sich die afrikanischen Volkswirtschaften diversifizieren können. Der Westen hat sich zu lange daran gewöhnt, billig Rohstoffe aus Afrika zu importieren anstatt die Wertschöpfung vor Ort mitzugestalten.

Ist das noch altes Kolonialdenken?

Köhler Im Prinzip ja. Der Westen nimmt Afrika oft nur als Verlängerung seiner eigenen kurzfristigen Interessen wahr. Der Aufstieg Afrikas gelingt aber nur, wenn die Heucheleien von beiden Seiten aufhören und man ehrlich zum gegenseitigen Nutzen zusammenarbeitet. Joint Ventures, gemeinsame Projekte, eine langfristige Investitionsoffensive werden gebraucht.

Wie viel Geld muss investiert werden?

Köhler Ich kann Ihnen nur ein Beispiel im Infrastruktursektor nennen: Aktuell geben die Afrikaner jährlich 75 Milliarden Dollar pro Jahr für Investitionen in ihre Infrastruktur aus. Mit Kofi Annan leite ich zurzeit eine Kommission, um die afrikanische Entwicklungsbank beim wirtschaftlichen Aufbau Afrikas strategisch zu beraten. Unser Team hat ausgerechnet, dass es Infrastruktur-Investitionen von jährlich 150 Milliarden Dollar geben muss, um den Bedarf in Afrika zu decken.

Was erwarten Sie von Angela Merkels Besuch morgen in Afrika?

Köhler Ich freue mich sehr, dass die Kanzlerin nach Äthiopien fährt, um bei der Afrikanischen Union das neue Haus des Friedens- und Sicherheitsrates einzuweihen, das wir Deutschen dort gebaut haben. Das ist ein gutes Zeichen. Gerade in der Sicherheitspolitik gibt es eine neue ermutigende Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika. Europa unterstützt die eigenen Anstrengungen der Afrikaner für Frieden auf dem Kontinent.

Merkels Flüchtlingspolitik gilt für viele als Auslöser der Massenbewegungen. Wie sehen Sie das?

Köhler Der Krieg in Syrien wurde nicht durch ein Selfie der Kanzlerin ausgelöst. Im Ernst: Ich fand ihre Entscheidung, vor einem Jahr die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge einreisen zu lassen, richtig. Das war eine großartige, humanitäre Geste in einer sehr schwierigen Lage. Seitdem haben Teile der Bevölkerung das Vertrauen in die Kontrollfunktion des Staates verloren. Aber wenn wir uns die Situation heute anschauen, dann kann man doch mit Zuversicht sagen, dass die Dinge unter Kontrolle sind.

Muss man eine Obergrenze definieren?

Köhler Die Diskussion um eine Zahl lenkt nur ab – vom Kernproblem der Fluchtursachen, aber übrigens auch von der großartigen Leistung der Menschen und Institutionen gerade in Bayern bei der Aufnahme der Flüchtlinge.

Sollte Deutschland großzügig bleiben bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Köhler Ja. Deutschland sollte nicht kleinmütig sein. In Europa werden wir weiterhin diejenigen sein müssen, die mehr aufnehmen, weil wir auch mehr schultern können. Aber es ist klar, dass es Grenzen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit gibt.

Ist es richtig, mit den afrikanischen Ländern ähnliche Abkommen zu schließen wie mit der Türkei?

Köhler Ja, aber das sind kurzfristige Lösungen, die Luft verschaffen. Gleichzeitig muss zum Beispiel Frontex schneller und wirksamer aufgebaut werden. Die Kehrseite der Abkommen: Afrikanische Führer könnten auf die Idee kommen, damit zu drohen, ihre Flüchtlingslager aufzulösen, wenn sie nicht mehr Geld von Europa bekommen. Aber es ist klar, dass uns die nordafrikanischen Staaten auch eine große Last abnehmen, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen. Dafür brauchen sie Unterstützung.

Die nordafrikanischen Staaten sind derzeit nicht gut angesehen in Deutschland.

Köhler Wer hat denn Libyen bombardiert? Wer trägt denn die Konsequenzen der westlichen Interventionspolitik im Nahen Osten? Da ist viel Heuchelei im Spiel. Europa hat Tunesien als Musterland der Demokratie gefeiert und dann wieder vergessen. Der IS steht vor der Tür. Das kann morgen alles wieder kippen. Mit einem verzweifelten Gemüsehändler aus Tunesien, der sich öffentlich angezündet hat, begann der arabische Frühling. Was hat sich heute für Gemüsebauern in Tunesien verändert?

Man spürt, dass Sie immer noch gerne und leidenschaftlich über Politik diskutieren. Bereuen Sie manchmal Ihren Rücktritt als Bundespräsident 2010?

Köhler Nein. Die Entscheidung war für mich klar. Ich musste mir und dem Land treu bleiben.

Nun suchen die Parteien wieder einen externen, überparteilichen Kandidaten für das höchste Staatsamt. Freut Sie das?

Köhler Ich bin überzeugt davon, dass wir eine gute Bundespräsidentin, einen guten Bundespräsidenten bekommen werden.