Afrika hat eine Vision

Symposium "ZukunftsWerte: Verantwortung für die Welt von Morgen"
Hamburg, 9. April 2018



I.

Ich freue mich sehr, heute in Hamburg zu sein, dem deutschen Tor zur Welt. Es gibt viele Orte, wo man über die Zukunft nachdenken kann, aber in Hamburg ist die Denkrichtung quasi schon mit eingebaut: Hier begegnen sich Tradition und Innovation, Verwurzelung und Weltläufigkeit, Freiheit und Verantwortung, und das sind genau jene Spannungsfelder, in denen Energie für Werte und mutige Zukunftsgestaltung entsteht.

Ich nehme stark an, dass Michael Otto nicht ganz unschuldig daran ist, dass sein Geburtstag nicht mit Konfetti, sondern mit Debatten gefeiert wird, eben mit diesem heutigen Symposium zu Zukunftsfragen. So habe ich ihn kennengelernt – persönlich zurückhaltend, nachdenklich, immer den Grundfragen von Wirtschaft und Gesellschaft auf der Spur. Dr. Otto war nie nur am unternehmerischen Erfolg interessiert, sondern immer auch am Schicksal Deutschlands, etwa als er mit Helmut Schmidt die Deutsche Nationalstiftung gegründet hat, immer auch am Schicksal der Natur, etwa als WWF-Präsident oder mit seiner eigenen Naturschutzstiftung, immer auch am Schicksal der Welt als Ganzes, etwa mit seinem klugen Engagement für Afrika. Viel früher als andere hat Michael Otto erkannt, dass Deutschland, dass Europa keine gute Zukunft haben kann, wenn nicht auch Afrika eine gute Zukunft hat. Und deshalb bin ich froh, dass wir neben den vielen Großfragen dieses Jahrhunderts, die heute diskutiert wurden, auch über die Großfrage der Zukunft des afrikanischen Kontinents sprechen, wobei diese Fragen, wie wir sehen werden, alle miteinander zusammenhängen.

II.

Ich bekomme seit geraumer Zeit ständig Einladungen, über Afrika zu sprechen. Ich freue mich über das gestiegene Interesse am afrikanischen Kontinent, aber manchmal zucke ich innerlich zusammen, und zwar dann, wenn ich als sogenannter „Afrika-Experte“ angefragt werde. Ich habe vor einigen Jahren eine Rede gehalten mit dem Titel „Von der Unmöglichkeit, über Afrika zu sprechen“, da begründe ich, warum ich nicht glaube, dass es so etwas wie einen alles überblickenden „Afrika-Experten“ geben kann, denn dafür ist dieser Kontinent viel zu groß und komplex und widersprüchlich. Mehr und mehr stört mich an diesem Begriff jedoch, dass er die Afrikapolitik an die Experten delegiert und damit suggeriert, die wirklich relevante Politik spiele woanders. Ich gebe also zu, dass ich den Titel des „Afrika-Experten“ nur mit einem gewissen Widerwillen trage, nicht weil er mich kleiner machen würde, sondern weil er Afrika kleiner macht, diesen großen, stolzen, wichtigen Kontinent.

Es gibt derzeit in der öffentlichen Diskussion, in Medien und Politik, eigentlich weiterhin nur zwei Geschichten, die über Afrika erzählt werden: die eine ist eine Geschichte des Leids, die Mitleid hervorruft, also das uns vertraute Afrika des Hungers, der Armut und der Kriege. Die andere ist eine Geschichte der Bedrohung, die Angst hervorruft; im Grunde auch dies ein jahrhundertealtes Motiv der Furcht vor dem schwarzen Mann, der Europa überrennt, das jetzt im Zuge der alles dominierenden Migrationsdebatte wieder stark wird. Beide Diskurse, der des Mitleids und der der Angst, verengen unseren Blick auf die afrikanische Wirklichkeit, sie reduzieren unseren Nachbarkontinent auf seine Beziehung zu Europa, und sie produzieren Lösungen, die ebenso verengt und damit irreführend sind. Viele afrikanische Politiker sagen mir in diesen Monaten leicht entnervt: „Ihr Europäer wollt mit uns nur noch über Migration reden“; und damit meinen sie nicht, dass Migration kein wichtiges politisches Thema wäre, sondern dass die afrikanisch-europäische Zusammenarbeit so viel mehr leisten kann und leisten muss als nur die Eindämmung von Migration. Wenn jedes Problem ein Nagel ist, wird nur noch mit dem Hammer gearbeitet, dabei ist die afrikanische Werkzeugkiste sehr viel bunter und die Herausforderungen, aber auch die Chancen, vielfältiger als es uns die sehr eindimensionale Migrationsdebatte glauben macht.

Afrika ist wichtig und wird immer wichtiger, es ist wichtig aus politischer Sicht, aus wirtschaftlicher Sicht, aus ökologischer Sicht, zunehmend auch aus kultureller Sicht. Afrika hat einen gigantischen Ressourcenreichtum, von dem der Rest der Welt schon lange und die eigene Bevölkerung noch skandalös wenig profitiert. Afrika verfügt über 60% der noch nicht bewirtschafteten Agrarflächen dieses Planeten. Afrika und seine Wälder, Wüsten, Meere sind für das globale Ökosystem von enormer Bedeutung. Der afrikanische Kontinent trägt nicht nur viele schlimme Folgen des von den anderen Kontinenten verursachten Klimawandels, sondern kann auch für seine Bekämpfung eine entscheidende Rolle spielen. Und schließlich hat Afrika eine Bevölkerung, die so rasant wächst und so jung ist, dass sie zu einem ökonomischen und sozialen Faktor auf diesem Globus geworden ist, den niemand weiter ignorieren kann. Die Bevölkerung wird sich bis ins Jahr 2050 wohl verdoppeln auf 2,5 Milliarden Menschen – dann werden etwa 25% der Weltbevölkerung Afrikaner sein, nur etwa 5% Europäer. Dann wird einer alternden europäischen Gesellschaft die größte Jugendbevölkerung in der Geschichte der Menschheit gegenüber stehen: auf unserem Nachbarkontinent sind schon heute die Hälfte aller Menschen jünger als 18 Jahre. In Deutschland liegt das Median-Alter bei etwa 47. Die gegenwärtige Zeit der Destabilisierung und des Konflikts in der Weltpolitik, die Debatten um Migration, Terrorismus, Kapitalismus, Demokratie usw., sie geben uns eine Vorahnung dessen, was diese gigantischen demographischen Umbrüche für das globale Zusammenleben bedeuten können.

Für mich steht fest, meine Damen und Herren: Der Jugend Afrikas Perspektiven zu geben, das ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Hier wächst eine Macht heran, mit der zu rechnen ist, im Guten wie im Schlechten. Ich sage bewusst „Macht“ – weil ich glaube, dass genau das die richtige strategische Kategorie ist, mit der wir auf diese globale Herausforderung blicken sollten; genauso, wie wir auch den Aufstieg Chinas oder die Digitalisierung als neue Machtfaktoren in der Weltpolitik begreifen.

III.

Schon 2005 hat der Afrikakorrespondent Bartholomäus Grill ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Ach, Afrika!“. Viele, mit denen ich in Deutschland über Afrika spreche, reagieren mit einem ähnlichen Stoßseufzer auf den Kontinent: „Ach, Afrika“, sagen sie frustriert, „da geht doch jetzt schon seit Jahrzehnten nichts voran, und dann diese Korruption…!“. Ich halte die Klage über die endemische Korruption in der Sache zwar nicht für falsch, aber im Tonfall eben auch für wenig hilfreich, bisweilen gar für verräterisch: erstens, weil sie verschweigt, dass oft nicht nur afrikanische Eliten, sondern auch Wirtschaftsakteure von außen an der Korruption beteiligt sind; zweitens, weil sie oft nur die eigene strategische Rat- und Tatenlosigkeit gegenüber Afrika verschleiert; und drittens, weil sie den Blick verstellt auf die vielen Fortschritte, die es in vielen Teilen des Kontinents unbestreitbar gibt. Nein, es ist nicht alles schlecht in Afrika!

Im „Doing Business“ Index der Weltbank liegt das bestplatzierte afrikanische Land, Mauritius, vor Frankreich und der Schweiz. Das zweitplatzierte afrikanische Land, Ruanda, liegt vor Rumänien und Belgien. Im Korruptionsindex von Transparency International ist Botswana besser platziert als Polen, und Namibia besser als Italien. Das alles macht die herrschende Korruption in vielen Ländern Afrikas nicht besser, rückt aber einiges in Perspektive.

Auch auf politischer Ebene muss man dringend differenzieren: Der von der Mo Ibrahim Stiftung erarbeitete, umfangreiche Index für gute Regierungsführung stellt fest, dass es in den vergangenen zehn Jahren bei Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit klare Verbesserungen gegeben hat – wenn auch in den letzten fünf Jahren verlangsamt. Müssen wir uns über die Zukunft der Demokratie aber nicht auch bei uns Sorgen machen, wenn wir den global aufkommenden Autoritarismus beobachten, oder von den Möglichkeiten der Manipulation von demokratischen Wahlen im Zeitalter der Digitalisierung erfahren? Vielleicht sollten wir die Diskussion um die afrikanische Demokratie mit etwas weniger Selbstgerechtigkeit führen, sondern in einen größeren Kontext stellen, was eigentlich die Voraussetzungen von Demokratie sind und wie sie zu erhalten ist, bei uns und woanders.

Tatsache ist jedenfalls, dass sich die 55 Staaten der Afrikanischen Union für ein politisches Entwicklungsmodell entschieden haben, das auf den Werten Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit fußt. Und ich sehe in der derzeitigen Führung der AU mit dem ruandischen Präsidenten Kagame und dem Kommissionsvorsitzenden Faki eine große Chance für Kontinuität und Berechenbarkeit in der afrikanischen Politik. Die Zeit aber, als man sich mit Dankbarkeit an einem gönnerhaften Europa orientierte, sie ist endgültig vorbei. Ein gutes Beispiel ist die Panafrikanische Freihandelszone, die vor wenigen Wochen von 44 Staaten auf den Weg gebracht wurde – damit machen die Afrikaner einen entscheidenden Schritt zu mehr regionaler Integration und auch weniger Abhängigkeit vom Westen oder von China.

Ja, es gibt sie, die afrikanischen Politiker und Intellektuellen, die eine klare strategisch-konzeptionelle Vorstellung haben, wo sie mit ihrem Kontinent hinwollen. Die Vision 2063 der Afrikanischen Union benennt die grundlegenden Ziele für die sozio-ökonomische Transformation Afrikas in den nächsten 50 Jahren. Wie kein anderer Kontinent verknüpft die AU dabei ihre eigene Strategie auch mit dem globalen Rahmenwerk der Vereinten Nationen, der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung. Mir gibt das Hoffnung, denn damit macht Afrika deutlich, dass es sich als Teil einer multilateralen, kooperativen Weltordnung mit einer starken UN versteht. In dieser Welt der wachsenden Unordnung sollte Europa hier einen Verbündeten erkennen.

Bei allem, was in Afrika unzureichend ist – und die allermeisten dieser Unzulänglichkeiten werden von der afrikanischen Zivilgesellschaft selbst am lautesten und wütendsten angeprangert, ganz ohne erhobenen europäischen Zeigefinger – sollte man anerkennen: Afrika hat eine Vision, einen Weg für sich definiert. Dieser Weg wird Zeit brauchen, auch Lernerfahrungen. Dass er gelingt, liegt im ureigenen europäischen Interesse. Europa sollte deshalb geduldig, aber auch ehrgeizig an einer echten Partnerschaft mit Afrika arbeiten.

IV.

Ich möchte in wenigen Pinselstrichen skizzieren, wo für mich wichtige Ansatzpunkte einer solchen echten Partnerschaft liegen.

Erstens: Der stärkste Motor von Entwicklung ist die Bildung. Afrikas Jugend ist hungrig auf Bildung, nach Perspektiven, auch nach politischer Partizipation, und wir sollten diesem Hunger nicht mit Kleingeistigkeit und Angst, sondern mit Offenheit und Großzügigkeit begegnen. Deutschland hat hier insbesondere mit seinem dualen Berufsbildungssystem oder auch den Fachhochschulen viel anzubieten. Die Möglichkeiten, praktische Bildung nach Afrika zu bringen, sind quasi unbegrenzt. Die Gründung eines Gemeinschaftswerk der Deutschen Wirtschaft für die Förderung der Berufsausbildung in Afrika (oder auch ein Deutsches Technik-Institut in Afrika) könnte dafür einen Leuchtturm setzen. Bieten wir darüber hinaus mehr jungen Leuten aus Afrika die Möglichkeit, für eine Zeit zu uns nach Deutschland und Europa zu kommen, zu lernen, zu studieren, zu forschen! Lasst uns massiv die deutschen und europäischen Austauschprogramme ausbauen und die Stipendienmöglichkeiten hochfahren! Was wir brauchen, so hat mir das mal ein Student in einer Diskussion an der Universität Kumasi in Ghana gesagt, ist nicht „brain drain“, der die besten Talente aus den afrikanischen Ländern abzieht, sondern „brain circulation“, also eine Offenheit für eine neue Generation von Anpackern, die global lernen wollen, um dann lokal ihr Land mit aufzubauen. Lassen wir uns um Gottes willen nicht von der Flüchtlingsdebatte davon abhalten, auf allen möglichen Wegen Bildungsperspektiven für die afrikanische Jugend zu schaffen, in Afrika und in Europa. Übrigens, wenn ich das an dieser Stelle anmerken darf, verstehe ich wirklich nicht, wieso Deutschland auch im Jahr 2018 immer noch kein modernes Einwanderungsgesetz auf die Reihe kriegt. Dabei wäre das ein enorm wichtiger Schritt, um Ruhe und Richtung in unsere Migrationspolitik zu bekommen. Es wäre auch ein richtiges Signal nicht zuletzt nach Afrika, dass wir zwischen Asyl und Migration zu unterscheiden wissen, und dass wir uns nicht einigeln, aber unsere Offenheit zu unseren Bedingungen gestalten.

Zweitens: Die deutsche Wirtschaft mit ihrer starken industriellen Kompetenz ist der geborene Partner für Afrika, um dort die notwendige Diversifikation und Transformation der afrikanischen Volkswirtschaften voranzubringen. Ich freue mich, dass die deutsche Wirtschaft in Industrie und Handwerk zunehmend das enorme, bedarfsnotwendige Wachstumspotenzial des afrikanischen Kontinents erkennt. Ich wünschte mir von ihr auch eine besondere Kreativität, afrikanische Standorte in globale Wertschöpfungsketten zu integrieren. Dabei kann vor allem auch unser Mittelstand mit seiner Philosophie der lokalen Verwurzelung und sozialen Verantwortung eine wichtige Rolle spielen. Für eine kraftvolle strategische Wirtschaftspartnerschaft mit Afrika muss aber auch der Staat mehr Flagge zeigen durch einen mutigeren und flexibleren Einsatz von Finanzierungs- und Garantieinstrumenten. Dabei sollte nicht einfach die Exportförderung, sondern insbesondere auch die Absicherung von Eigenkapitalinvestitionen des Mittelstandes verbessert werden, die vor Ort Arbeitsplätze schaffen. Ich glaube, dass der „Compact with Africa“, den die Bundesregierung letztes Jahr mit ihrer G20-Präsidentschaft angestoßen hat, einen neuen, nachhaltigen Impuls bewirken kann – wenn er die Verbesserung des Investitionsklimas in ausgewählten afrikanischen Ländern auch verzahnt mit der Verbesserung der Förderinstrumente bei uns. Ich hoffe sehr, dass diese Initiative nicht versandet und die neue Bundesregierung bei der Umsetzung des Compacts jetzt Tatkraft und Ehrgeiz zeigen wird.

Drittens: Europa muss endlich begreifen, dass es sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit Afrika befindet. Das verlangt, dass es seine Agrar-, Industrie- und Handelspolitik überprüft auf die Frage hin, was in Afrika wirklich Arbeitsplätze schafft (oder eben die Schaffung von Arbeitsplätzen erschwert). Damit die afrikanischen Volkswirtschaften fähig werden, mehr ihrer eigenen Rohstoffe zu verarbeiten, halte ich es für berechtigt, dass afrikanische Regierungen einen zeitlich begrenzten Schutz für den Aufbau entsprechender infant industries fordern. Europa muss im eigenen Interesse eine positive Antwort darauf finden und darf sich nicht von den Besitzstandswahrern in seinen Reihen bremsen lassen. Mir leuchtet auch die Idee (vor allem grenzüberschreitender) Sonderwirtschaftszonen in Afrika ein, die sich mit klaren Governance-Regeln zu regionalen Hubs entwickeln können.

Mein vierter Punkt ist kein ökonomischer, sondern eher ein kultureller: Legen wir unsere Arroganz gegenüber Afrika ab, lernen wir mehr über seine Geschichte, seine Wirklichkeit, seine Kultur. Lernen wir zu differenzieren. Und lernen wir mehr von Afrika. Dieser Kontinent verdient die volle Aufmerksamkeit unserer klügsten Köpfe, er verdient Reisen und Dialoge noch viel stärker als bisher. Und er verdient einen gegenseitigen Lernprozess, ein übereinander, voneinander lernen. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass wir in diesem Prozess auch uns selbst besser verstehen lernen – was es bedeutet, Europäer zu sein, deutsch zu sein in dieser Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten.

V.

Meine Damen und Herren, zwischen Europa und Afrika gibt es ganz offensichtliche Asymmetrien, politische und ökonomische. Ich glaube, der Schlüssel für eine echte, strategische Partnerschaft zwischen beiden Kontinenten ist: Wir dürfen diese Asymmetrien nicht verschleiern, sondern müssen sie produktiv nutzen. Ich sehe dafür zwei große Ansatzpunkte: Wir können sie erstens dadurch nutzen, dass wir stärkere Finanzbrücken bauen zwischen den alternden, sparstarken Gesellschaften des Nordens und den jungen, investitionshungrigen Gesellschaften des Südens. Zweitens können wir die Asymmetrien fruchtbar machen – und auch das ist nicht mehr nur ein ökonomischer, sondern fast schon ein kultureller Punkt – wenn wir unsere eigenen Wachstumsvorstellungen in Beziehung setzen zum dringend benötigten Wachstum in Afrika, dem dortigen Wachstum also ökologischen und ökonomischen Raum geben durch eine andere Art des Wirtschaftens, des Produzierens und Konsumierens bei uns. Ich bin zutiefst davon überzeugt, meine Damen und Herren, dass das kein Verzichtsszenario ist, sondern im Gegenteil ganz neue Wohlstandsenergien bei uns freisetzen wird, jenseits des materiellen und letztlich selbstzerstörerischen „Immer Mehr“.  Warum wagen wir es nicht, die Vision eines wahrhaft globalen Sozialkontrakts zu denken? Allen, denen das eine Nummer zu groß ist, sage ich: Machen wir uns nichts vor – die Migrationsbewegungen der letzten Jahre, von denen wir in Europa bisher lediglich die Ausläufer gespürt haben, sind kein geschichtlicher Ausrutscher, sondern Boten einer neuen Zeit, in der die krassen Wohlstandsunterschiede zwischen den Ländern von einer unruhigen und wachsenden Jugend im Süden nicht länger akzeptiert werden. Es ist möglich, dieser Jugend Perspektiven zu eröffnen. Die wirtschaftliche Transformation Afrikas kann aber nur in Wechselwirkung mit einer strukturellen Transformation Europas gelingen.

Und damit sind wir bei all den Themen, über die Sie heute gesprochen haben: Digitalisierung, Globalisierung, Klimawandel, globale Ungleichheit, Zukunft des Kapitalismus. All diese Herausforderungen schreien nach einer strukturellen Transformation, einem Neudenken der Beziehungen zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen. In diesen großen globalen Transformationskontext müssen wir auch unsere Afrikapolitik einordnen.

VI.

Michael Otto, dessen Geburtstag uns heute hier in der Elbphilharmonie zusammenführt, hat schon früh auf diese Zusammenhänge hingewiesen zwischen dem Ökologischen und dem Sozialen, zwischen dem Nationalen und dem Globalen. Er ist nie beim Nachdenken stehengeblieben. Michael Otto hat seine Haltung stets im Handeln bewiesen.

Dafür stehen seine Initiativen, das Prinzip des nachhaltigen Wirtschaftens in der Unternehmenskultur der Otto Group zu verankern; dafür steht seine ganz persönliche Bereitschaft als Unternehmensführer, im Kampf gegen den Klimawandel Flagge zu zeigen. Und dafür steht sein Projekt „Cotton made in Africa“, mit dem Michael Otto nicht nur in umfassender Weise eine faire Zusammenarbeit mit afrikanischen Kleinbauern organisiert, sondern auch seinen tiefen Respekt vor der Natur und der Kultur Afrikas beweist. Er ist damit Pionier einer neuen Art der Kooperation zwischen den Kontinenten.

Michael Otto lebt im besten Sinne Gebot und Geist unseres Grundgesetzes in Deutschland: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Als Hamburger weiß er, dass wir angesichts der Interdependenz auf unserem Planeten diese Allgemeinheit auch global verstehen müssen.

Für mich ist Michael Otto ein Mutmacher, dass die soziale und ökologische Marktwirtschaft Zukunft hat, in Deutschland und in der Welt. Danke dafür, lieber Michael Otto. Hören Sie bitte nicht auf, über die Zukunft nachzudenken – eine Zukunft, die allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, auch in Afrika.