300 Jahre Dorfkirche Zöbigker: Wo Segen Zukunft hat

300jährige Kirchweih der Dorfkirche/Fahrradkirche zu Zöbigker
Markkleeberg, 8. September 2024



„Tohuwabohu“, dieser hebräische Ausdruck beschreibt ganz zu Beginn der Bibel den Urzustand der von Gott geschaffenen Welt. Martin Luther übersetzte ihn mit „wüst und leer“. „Tohuwabohu“/„wüst und leer“ war die Erde, als Gott sein sechstägiges Schöpfungswerk begann.
Wie das wohl aussah? Vielleicht so, wie der Cospudener Tagebau, der westlich von Zöbigker bis Anfang der 1990er Jahre ein gewaltiges Loch in die Landschaft fraß. 87 Millionen Kubikmeter Abraum wurden dort über Jahrzehnte bewegt und 32 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert. Was blieb war Tohuwabohu, ein Landstrich „wüst und leer“.
Seitdem ist viel geschehen! Im vom Braunkohleabbau gezeichneten südlichen Umland Leipzigs ist eine eindrucksvolle Seenlandschaft gewachsen. Ein Gewinn für Mensch und Natur! Gestern konnte ich mich mit meiner Frau bei einer Radtour von der Schönheit des Cospudener Sees überzeugen. Es lohnt, nach Zöbigker zu kommen. Das Leipziger Neuseenland hat sich mehr und mehr zu einer attraktiven Tourismusregion entwickelt, die in unmittelbarer Nähe zur Großstadt einen hohen Erholungs- und Freizeitwert bietet.
Ich freue mich, dass Zöbigker davon profitiert. Und dass die evangelische Gemeinde hier vor Ort mit der Fahrradkirche früh eine Chance genutzt hat, um mit Menschen „über Gott und die Welt“ ins Gespräch zu kommen und diesen besonderen Ort der alten Kirche von Zöbigker vor dem Verfall zu bewahren. „Wüst und leer“ sollte es hier am Rande Zöbigkers nicht zugehen.
Die alte Kirche von Zöbigker, das, was von ihr geblieben ist und das, was aus ihr neu erwachsen ist: All das war immer schon und ist auch heute noch eine „Heterotopie“, ein „Anderort“. Der von dem französischen Philosophen Michel Foucault geprägte Begriff der Heterotopie bezeichnet „tatsächlich realisierte Utopien […], Orte außerhalb aller Orte“ (Foucault). Christen und Nicht-Christen machen gleichermaßen die Erfahrung: Unsere Kirchen gleichen nicht unseren Wohnzimmern. Ihre Architektur und ihr Inventar sind nun mal „anders“, weisen über sich selbst hinaus und deuten für religiös Gestimmte auf Gott als den „ganz Anderen“.
Wer auf dem Boden einer Kirche steht, kann erahnen, wie viele Generationen wohl schon vor ihm dort waren und Ruhe fanden, nach Kraft suchten, beteten, dankten, jubelten, sangen, klagten, flehten, Zuspruch und Anspruch in Gottes Wort vernahmen, Segen empfingen – oder einfach nur die Andersartigkeit des Ortes auf sich wirken ließen.
Die Kirchengebäude in unserem Land, ob über Jahrhunderte erhalten und gepflegt, oder aber vom Verfall bedroht: Sie sind ein überaus wichtiger Teil des kulturellen Erbes unserer Dörfer, Städte und Landschaften. Und ich sehe die Verantwortung für diese Orte nicht allein bei den großen Kirchen, deren Mitgliedszahlen leider kontinuierlich abnehmen und deren Finanzkraft zurückgeht. Unsere Gesellschaft tut insgesamt gut daran, diese „Andersorte“ zu pflegen und sie für künftige Generationen zu bewahren. Wir haben darüber nachzudenken, wie man sie auch dort weiter sinnvoll lebendig nutzen kann, wo sich keine Gemeinde zum Gottesdienst versammelt.
Hier in Zöbigker haben Sie, liebe Festgemeinde, die Verantwortung für ihre Kirche schon vor Jahren als Aufgabe für alle im Ort erkannt: Als 2007 das brachliegende Gelände der Kirche von Schutt, Brennnesseln und Brombeerranken befreit wurde, packte nicht nur die Kirchengemeinde an, sondern auch mancher, der konfessionell nicht gebunden ist. Viele erkannten: Hier geht es um einen „anderen“, einen besonderen Ort in Zöbigker. Den Skeptikern, die damals fragten, „Wozu braucht Zöbigker noch eine Kirche?“, haben Sie gezeigt: Dieser Ort tut gut und er hat Zukunft. Die Ruine, von der manche glaubten, dass sie früher oder später dem Cospudener Tagebau zum Opfer fällt, steht heute sicher und niemand möchte sie missen.
„Es klingt die alte Erde. Es klingt die alte Zeit“, heißt es im Refrain von Wilfried Mengsʼ „Fahrradkirchenlied“. Heute läutet sie wieder und hat ihren Turm zurück: die 1785 von Patronatsherr Jacob Friedrich Kees gestiftete Glocke der Zöbigker Kirche. Und wenn sie läutet, dann klingt die alte Erde, dann klingt die alte Zeit. Aber dann klingt auch das „hier und heute“: Denn die Fahrradkirche ist mehr als ein historischer Ort. Sie ist ein Stück lebendiger Heimat: für die Zöbigker „Urgesteine“, aber eben auch für die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde, für die Generationen von gestern, ebenso wie die von heute und morgen.
Ich freue mich sehr, heute hier zu sein und mit Ihnen, mit Euch, liebe Schwestern und Brüder, diesen Gottesdienst feiern zu dürfen. Wir feiern heute keine Ruine, sondern bringen vor Gott unsere Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass die Mauern der alten Dorfkirche auch nach 300 Jahren fest stehen, ein modernes Dach Schutz vor Wind und Wetter bietet und ein neuer Turm aus der Ferne erkennen lässt: Hier ist ein besonderer Ort. Dankbarkeit für all jene, die hier in den vergangenen Jahren viel Engagement, Tatkraft, Fleiß und auch Nerven investiert haben. Dankbarkeit dafür, dass die Zöbigker Kirche wieder so viel mehr ist als eine Ruine:
Fahrradkirche, Pilgerkirche, Lichtkirche. – All das und noch viel mehr finden wir hier an diesem Ort, der von Brüchigkeit und Gefährdung, aber auch von Rettung und Bewahrung zeugt. – Liebe Zöbigker, seid stolz auf das, was Ihr hier in den vergangenen Jahren geschaffen habt: Aus alten Mauern habt Ihr eine neue Kirche gebaut und zugleich eine lebendige Gemeinde aufgebaut. Das ist ein Leuchtturm für die Menschen, nicht nur in Sachsen.
„Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht“ (EG 166,1), dichtete Benjamin Schmolck vor bald 300 Jahren und hatte dabei eine Kirche vor Augen. – Für die segensreichen Quellen, an denen sich Trost und Licht in unseren Dörfern und Städten finden lassen, lasst uns dankbar sein. Wir brauchen sie – heute, morgen, allezeit.