Abschied vom Menschheitstraum? Die Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert

Rede auf dem Festakt der DGVN zum 70-jährigen Jubiläum der Vereinten Nationen
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Berlin, 21. Oktober 2015



I.

Als mich vor einigen Monaten die Einladung der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen erreichte, anlässlich des 70-jährigen VN-Jubiläums eine Festrede zu halten, da war ich zunächst skeptisch. Gibt es denn wirklich etwas zu feiern – jenseits des chronologischen Zufalls und unserer menschlichen Vorliebe für runde Zahlen? Und wurde nicht schon alles gesagt, 70 mal und mehr; haben wir sie nicht schon alle gehört, die Lobgesänge und Abgesänge auf die Vereinten Nationen, die weitsichtigen Analysen, die klugen Reformvorschläge? Fehlt es uns wirklich an Einsichten, oder nicht eher am Willen, diese Einsichten umzusetzen? Wünschen wir uns nicht vielmehr die Kraft der Stille in diesen lärmenden Zeiten, und dann mögen nicht Worte, sondern Taten sprechen?

Nun, Sie sehen, ich bin hier. Ich habe also diese Einladung dann doch angenommen. Ich habe sie angenommen, weil ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit den Vereinten Nationen uns zum Nachdenken über einige grundlegende Fragen der Menschheit zwingt. Dieses Nachdenken war nie wichtiger als heute. Ich weiß, dass viele von Ihnen sich mit großem Engagement an diesem Prozess des Nachdenkens beteiligen, dass viele von Ihnen sich nie entmutigen ließen von der großen Komplexität dieser Fragen – moralischer Komplexität, politischer Komplexität –, und deshalb freue ich mich darüber, dass wir an diesem Abend gemeinsam nachdenken können.

70 Jahre Vereinte Nationen, das ist für mich auch ein persönliches Thema, das habe ich bei der Vorbereitung für diese Rede gemerkt. Das liegt nicht nur daran, dass ich in meiner Zeit als Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) Teil der VN-Familie – wenn auch nicht des VN-Systems im engeren Sinne – war; oder dass ich neulich als Mitglied im High Level Panel des Generalsekretärs zur Post-2015 Agenda mitgearbeitet habe. Nein, persönlich ist dieses Thema für mich auch deshalb, weil ich ja in die Endwirren genau jenes Krieges hineingeboren wurde, dessen Wiederholung mit der Gründung der VN ausgeschlossen werden sollte. Als die Konferenz von San Francisco im April 1945 begann, war ich wenige Wochen zuvor gerade zwei Jahre alt geworden. 70 Jahre später stelle ich mir also auch ganz persönlich die Frage: Was hat die Menschheit in meiner Lebenszeit eigentlich erreicht?

Unserem kollektiven deutschen Gedächtnis ist die Gründung der VN als historisches Datum nicht besonders präsent, wir waren 1945 gar nicht dabei, genauso wenig wie fast drei viertel der heutigen Mitglieder. Sowohl die BRD als auch die DDR wurden erst 1973 zu Mitgliedstaaten. Dass die Gründung der Vereinten Nationen dennoch ganz unmittelbar mit der deutschen Geschichte und jenem furchtbaren Krieg zusammenhängt, mit dem Deutschland die Welt in den tiefsten Abgrund hat sehen lassen, das sollten wir in unserer Erinnerung wachhalten. Vor diesem Hintergrund halte ich es auch für selbstverständlich, dass Deutschland seit Jahrzehnten zu den stärksten Fürsprechern und größten Beitragszahlern der Vereinten Nationen gehört; und ich bin dankbar dafür, dass die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen unermüdlich dafür kämpft, dass dieses Engagement nicht ermattet.

Meine Damen und Herren,

Sie mögen geahnt haben, dass ich heute keinen Lobgesang auf die VN anstimmen werde. Auch mein Lied ist ein Lied der Klage, was könnte man auch andres singen dieser Tage? Aber es ist auch ein Lied der Dankbarkeit, und ein Lied der Hoffnung.

Denn wer auf die Vereinten Nationen blickt, der muss beides sehen, die Verheißung und die Enttäuschung, den Abgrund und den Himmel. Die VN sind ein Spiegel der Menschheit mit all ihren Makeln und all ihren Möglichkeiten. Diese Widersprüchlichkeit, die Anlage zum Guten und zum Schlechten, zum Altruismus und zum Egoismus, sie ist Kern unseres Menschseins. Und so sind auch die Vereinten Nationen, „we, the peoples“, eine zutiefst widersprüchliche Angelegenheit: Da stehen auf der einen Seite die Nationalstaaten, die sich gegenseitig ihrer Gleichheit und Unverletzbarkeit versichern, und auf der anderen Seite die Sehnsucht nach einer globalen Autorität, die übergreifende Probleme jenseits spezifischer nationaler Interessen lösen kann. Da steht auf der einen Seite das Bedürfnis nach möglichst breiter Beteiligung, und auf der anderen Seite der Wunsch nach Effektivität und Durchschlagskraft. Da steht auf der einen Seite der Anspruch, ein Projekt universeller und unumstößlicher Normen zu sein, und auf der anderen Seite der Versuch, die Verschiedenheit und Vielfalt der Kulturen anzuerkennen. Und über allem schwebt der eklatante und schmerzende Widerspruch zwischen dem, was die VN sein sollen und dem, was sie tatsächlich sind, zwischen Anspruch und Realität. Diese Widersprüche und Spannungsfelder prägen die Vereinten Nationen – nicht erst heute, sondern schon seit ihrer Gründung.

II.

Viele der inhärenten Widersprüche, an denen wir uns heute reiben, waren den Vereinten Nationen schon in die Wiege gelegt. Es ist mittlerweile fast schon ein Klischee, zu sagen, dass die Struktur der Vereinten Nationen von 1945 nicht in die Realität des 21. Jahrhunderts passt. Diese Feststellung ist zwar richtig, aber sie sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, wie viele der Argumente, die wir heute zur Zukunft der VN anführen, schon vor 70 Jahren die Debatte bestimmt haben. Es könnte sein, dass die Unvollkommenheit und Widersprüchlichkeit, die uns heute so frustriert, schon 1945 von vielen Beteiligten klar gesehen wurde – aber damals einfach das bestmögliche Verhandlungsergebnis darstellte. Wie leicht ist es aus heutiger Sicht, den enormen politischen Kraftakt zu unterschätzen, den die Gründungskonferenz von 1945 in San Francisco darstellte.

Oberstes Ziel war es, ein Scheitern wie beim Völkerbund, der den 2. Weltkrieg nicht verhindern hatte können, nicht mehr zuzulassen. Es ging nicht darum, die Menschheit in den Himmel zu führen, sondern vor der Hölle zu retten, wie Dag Hammarskjöld das später ausdrückte. Man wollte den Frieden um jeden Preis bewahren – auch auf Kosten der Gerechtigkeit zwischen den Staaten. Dementsprechend ist die UN-Charta auch eine gehörig paradoxe Mischung aus Realpolitik und Idealismus.

Nehmen wir die Frage des Vetos im Sicherheitsrat, die damals wie heute wohl umstrittenste Strukturfrage der VN, und damit die Frage nach der Gleichberechtigung der Nationen. Die New York Times kommentierte am 7. Mai 1945: „Die kleinen Nationen haben widerstrebend die Idee sozusagen einer Weltdiktatur der großen Mächte akzeptiert, weil sie wissen, dass sie angesichts des Zustands der Welt keine Weltorganisation haben können, ohne zuzulassen, dass die großen Mächte den Ton angeben. Und die kleinen Ländern wollen eine Weltorganisation unbedingt.” Und für die großen Staaten, allen voran natürlich die USA und die Sowjetunion, war als Militärmächte eine Beteiligung an einem Sicherheitsrat, der auch Friedenseinsätze autorisiert, ohne ein Veto nicht vorstellbar.

Aus heutiger Sicht mutet es fast unwirklich an, welchen gigantischen personellen, finanziellen und intellektuellen Aufwand gerade die USA betrieben haben, damit die Vereinten Nationen ein Erfolg werden. Das war nicht zuletzt auch dem hohen persönlichen Engagement der Präsidenten Roosevelt und Truman zu verdanken. Roosevelt war von der Idee so überzeugt, dass er sich auch von einem nackten Churchill nicht hatte aufhalten lassen: Als Winston Churchill nach den Attacken auf Pearl Harbor 1941 zu Besuch im Weißen Haus war, preschte der US-Präsident eines Abends mit seinem Rollstuhl in das Gästezimmer von Churchill, der gerade beim Baden war, und schleuderte ihm mit unbeirrter Begeisterung entgegen: „United Nations!“. Der britische Premier soll, ebenfalls unbeirrt, kurz und bündig geantwortet haben: „Good“. So stand zumindest der Name für die neuzugründende Organisation fest. FDR, der offenbar sogar mit dem Gedanken gespielt hatte, als Präsident zurückzutreten, um erster VN-Generalsekretär zu werden, konnte tragischerweise die Geburt „seiner“ Vereinten Nationen nicht mehr miterleben. Er starb nur zwei Wochen vor Beginn der Gründungskonferenz in San Francisco. Die allererste Entscheidung, die der neue Präsident Truman dann nur wenige Stunden nach seiner plötzlichen und völlig unerwarteten Vereidigung traf, war, dass die Konferenz wie geplant stattfinden sollte. Truman selbst hatte schon als Vizepräsident in seiner Brieftasche stets ein Gedicht von 1837 mit sich herumgetragen, in dem die Vision eines „Parlaments der Menschheit“ beschrieben wird, einer „Föderation der Welt“, in der „common sense“ und „universelles Recht“ gelten solle.

Natürlich stand auch für Truman die Führungsrolle der USA nicht in Frage, auch wenn er in seiner Antrittsrede vor dem Kongress betonte, die Verantwortung der großen Staaten sei es, der Welt zu dienen und nicht, sie zu dominieren. Wie dabei die Definition von „dienen“ auf die ganz eigene amerikanische Art ausgelegt wurde, zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass mit großem geheimdienstlichen Aufwand alle ausländischen Delegationen in San Francisco abgehört und ausspioniert wurden. Man wollte nichts dem Zufall überlassen bei der Schaffung dieser neuen Weltfriedensordnung.

Die Gründung der Vereinten Nationen vor 70 Jahren war kein Selbstläufer, sondern sie war das Ergebnis von politischem Willen, einer mutigen Vision und knallhartem Pragmatismus.

Dass die VN seitdem überlebt hat, trotz aller Paradoxien, auch durch die schwierigsten Zeiten hindurch, dass sie es noch dazu geschafft hat, von einer Organisation einiger Dutzend Siegermächte zu einer echten Weltorganisation aller Staaten zu werden, das haben wir auch der Weitsicht, dem Verhandlungswillen und dem Verhandlungsgeschick zu verdanken, mit denen 1945 in San Francisco die Charta verfasst wurde.

Dass die damalige Generation überhaupt die Kraft zu einem solchen Schritt hatte, angesichts eines völlig zerstörten Europas, bei Millionen von Toten und Flüchtlingen auf der ganzen Welt, dass mit der Verwirklichung des Traums vom Frieden begonnen wurde noch bevor der Krieg überhaupt zu Ende ging, in einer Zeit, zu der sich der kalte Krieg schon am Horizont abzeichnete, dafür sollten wir heute dankbar sein. Und das sollte heute gerade den großen Mächten zu Denken geben. Die erfolgreiche Gründung der Vereinten Nationen bleibt, in all ihrer Mangelhaftigkeit, ein Mut-Macher für jene, die an den Mühen der Ebene im Multilateralismus zu verzweifeln drohen. Sie ist eine Mahnung an jene, die ihr Heil wieder in nationalstaatlichen Schneckenhäusern suchen, und auch an jene, die ihren Defätismus für Realismus halten und ihren Mangel an politischen Visionen für Realpolitik.

III.

Um Realpolitik (oder das, was viele dafür halten) geht es auch im ersten der drei Spannungsfelder, die ich heute näher beleuchten möchte. Der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr schrieb vor der Gründung der VN: „Nationen können nicht durch einen puren Willensakt einen neuen Souverän über ihnen erschaffen, sich dann umdrehen und sich diesem neuen Souverän unterwerfen“. Er beschrieb darin das Grundparadoxon einer internationalen Organisation souveräner Staaten. Ist die VN mehr als nur die Summe ihrer Teile? Sie ist dem kollektiven Willen ihrer Mitgliedsstaaten unterworfen und ist dennoch gleichzeitig eigenständiges Subjekt. Kofi Annan hat oft darauf hingewiesen, wenn er auf Kritik an der VN die Rückfrage stellte: „Welche VN meinen Sie?“.

Zum Symbol dieses Dilemmas ist der VN-Sicherheitsrat geworden. Der ist ja nicht als Privilegienclub gedacht, sondern seine Mitglieder sollen laut Charta im Auftrag und damit auch im Sinne aller VN-Mitglieder handeln. Wie stark steht doch dieser Anspruch im Kontrast mit der krassen Interessens- und Machtpolitik, die im Rat meist den Ton angibt! Die Instrumentalisierung des Sicherheitsrats zur Durchsetzung der Interessen individueller Staaten ist ein Grundübel der VN und lähmt die Weltgemeinschaft oft in ihrer empfindlichsten Funktion, der Bewahrung des Friedens. Ob Irak oder Libyen – die Umgehung des Sicherheitsrates oder die absichtliche Fehlinterpretation seines Mandates haben nicht nur der Glaubwürdigkeit der VN massiv geschadet, haben doch die großen Mächte das Signal ausgesendet, dass es Regeln gibt, die man nicht beachten muss. Vor allem hat dadurch aber der politische Kontrollmechanismus der internationalen Gemeinschaft versagt, der die Welt vor dummen und gefährlichen Interventionen schützen sollte. Stattdessen haben wir im vergangenen Jahrzehnt eine Interventionspolitik gesehen, die einem angesichts ihrer Kurzsichtigkeit und, ja, Inkompetenz den Atem verschlägt. Die Leidtragenden sind jetzt Millionen Frauen, Männer und Kinder besonders im Nahen Osten – und natürlich muss die Suppe wieder vor allem die VN auslöffeln.

Die VN steckt dabei oft in einer Zwickmühle – entweder wird sie umgangen, oder die Mitgliedsstaaten stellen ihr nicht genügend Ressourcen zur Verfügung, um Entscheidungen des Sicherheitsrates dann auch durchzusetzen. Die verschiedenen Reformvorschläge mit ihren Vor- und Nachteilen und die Chancen für ihre Verwirklichung sind bekannt und es sind andere besser berufen als ich, diese im Einzelnen zu bewerten. Wichtiger ist mir für heute, auf die Vorstellungen von Souveränität und nationalem Interesse einzugehen, die der Spannung zwischen Weltautorität und nationalstaatlicher Unabhängigkeit zugrunde liegen.

Die Idee absoluter nationalstaatlicher Souveränität war angesichts der gewaltsamen Übergriffe von Staaten untereinander eine mächtige, im evidenten Eigeninteresse Aller liegende Idee. Und sie war auch die treibende Kraft hinter den Unabhängigkeitsbestrebungen jener Nationen, die ab den 60er Jahren dann vollständige Mitglieder der VN wurden. Ich betone das, weil man sich bei allem weltbürgerlichen Optimismus immer wieder daran erinnern muss, dass die Idee einer Weltregierung, die den Nationalstaaten übergeordnet ist, auf absehbare Zeit nicht wirklich mehrheitsfähig ist. Da braucht man nur in die politische Kultur der USA zu blicken, wo das Konzept von Regierung überhaupt eher als ein notwendiges Übel gesehen wird.

Dennoch zeigt die Realität auch, dass die nationalstaatliche Souveränität an ihre Grenzen stößt. Erstens gibt es immer mehr fragile Staaten, die nur noch eine Hülle von Staatlichkeit aufrechterhalten und längst die Kontrolle über ihr Staatsgebiet verloren haben, was eine notwendige Bedingung für Souveränität ist. Zweitens haben die schmerzhaften und blutigen Erfahrungen etwa in Ruanda gezeigt, dass nicht nur die Sicherheit von Staaten und die Unverletzbarkeit ihrer Staatsgebiete ein schützenswertes Gut sind, sondern v.a. auch die Sicherheit von Menschen und die Unverletzbarkeit ihrer Würde. Daraus hat sich das Konzept der Responsibility to Protect, kurz R2P, entwickelt: die internationale Gemeinschaft hat danach eine Pflicht, bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuschreiten, auch wenn dies die Verletzung der staatlichen Souveränität bedeutet. Ich halte es für einen großen Erfolg der VN, dass dieses Konzept in einer Resolution der Generalversammlung 2009 angenommen wurde. Gerade weil es aber an einer Grundfeste des Staatensystems rüttelt, wäre der absolute Respekt des Völkerrechts und der aufgestellten Regeln so wichtig. Umso dramatischer ist der Missbrauch von R2P etwa in der Libyenfrage und damit die praktizierte Diskreditierung des gesamten Konzepts.

Der wichtigste limitierende Faktor für die traditionelle Vorstellung von Souveränität ist allerdings, drittens, die Realität der Interdependenz und damit die Tatsache, dass es eine Menge von globalen Herausforderungen gibt, die sich um Staatsgrenzen nicht scheren: Terrorismus, Ebola, Klimawandel, Migration…die Liste ist lang. All diese Themen rufen nach einer global governance, deren Ziel sich nicht mehr darauf beschränkt sicherzustellen, dass die nationalstaatlichen Boote nicht miteinander kollidieren, sondern welche die Weltpolitik in dem einen Boot koordiniert, in dem alle Völker längst sitzen. Diese Tatsache erfordert, den Begriff des nationalen Interesses neu zu denken, denn unsere Interessen sind längst so sehr miteinander verwoben, dass es tatsächlich so etwas wie ein globales Interesse, ein globales Gemeinwohl gibt.

Hier kommen wir wieder am Ausgangspunkt unserer Überlegungen an: wie kann die VN dieses globale Gemeinwohl verteidigen, wenn sie in ihrer Autorität doch von der Ermächtigung der Nationalstaaten abhängig ist?

Folgender Gedanke könnte uns hier weiterhelfen: Die Gründung der Vereinten Nationen war nicht nur ein Akt der kollektiven Selbstermächtigung, sondern gleichzeitig auch ein Akt der kollektiven Selbstbeschränkung. Darauf hat auch Papst Franziskus in seiner beeindruckenden Rede vor der Generalversammlung hingewiesen. Er betonte, dass die Erfolge der VN Lichter seien gegen die Dunkelheit der Unordnung, die durch ungezügelte Ambitionen und kollektiven Egoismus entsteht. „Sicherlich bleiben viele ernste Probleme ungelöst, aber es ist klar, dass ohne all diese Aktivitäten auf internationaler Ebene die Menschheit den unkontrollierten Gebrauch seiner eigenen Möglichkeiten nicht überlebt hätte.“

Der Multilateralismus, der zur Lösung der globalen Probleme, verzeihen Sie das Wort, alternativlos ist, funktioniert also nur in einer Logik der Kooperation und der Selbstbeschränkung. Dies betrifft insbesondere die mächtigen Staaten, die nicht alles tun dürfen, was sie tun können.

Unsere Sehnsucht nach einer starken formellen Autorität, die das auch sicherstellen und durchsetzen kann, wird unerfüllt bleiben. Umso wichtiger wird die Einsicht der Politik, dass die Menschheit in einer interdependenten Welt nur gemeinsam überleben wird. Tatsächlich glaube ich, dass das Bewusstsein hierfür zumindest in den Zivilgesellschaften wächst.

Dieses Bewusstsein weiß: Wenn der Multilateralismus versagt, versagt nicht nur die Menschlichkeit, wie wir in Ruanda, in Srebrenica gesehen haben oder jetzt in Syrien sehen. Wenn der Multilateralismus versagt, wird am Ende die Menschheit versagen. Der existenzbedrohende Klimawandel ist nur ein Bote dafür.

IV.

Einsicht ist aber nicht alles. Es geht auch um die Frage der Umsetzung. Damit komme ich zum zweiten Spannungsfeld: die Vereinten Nationen sind seit jeher gefangen einerseits zwischen dem Anspruch, möglichst breite Beteiligung zu ermöglichen, und andererseits dem Streben nach Effektivität. Das gilt für den ständigen Streit, ob nun die Generalversammlung mehr Gewicht bekommen soll, die für das Prinzip der universellen Beteiligung steht, oder doch der Sicherheitsrat, der zumindest theoretisch durch seine kleinere Zusammensetzung für Entscheidungsfähigkeit sorgen soll, oder aber, besser noch, ob nicht die Stimmverteilung in der Generalversammlung und auch im Sicherheitsrat insofern geändert werden müsste, dass eine fairere Beteiligung möglich ist und gleichzeitig auch die Schlagkräftigkeit erhöht wird…Sie sehen, es ist ein wenig wie die Quadratur des Kreises.

Zwischen diesen Polen bewegt sich auch die VN als eigenständige Organisation, oder besser gesagt als Organisationsnetzwerk, denn längst gibt es ja eine Vielzahl von Programmen und Unterorganisationen, die miteinander verknüpft und verknotet sind; oder vielleicht ist „verknäult“ das richtige Wort, denn man muss sich die VN-Struktur ja weniger wie ein geordnetes Netz vorstellen, sondern eher wie eine Schüssel Spaghetti. Da mag jede einzelne Organisation zum Zeitpunkt ihrer Schaffung eine spezifische Lücke gefüllt haben und ein Bedürfnis nach breiterer Aufstellung gestillt haben, aber weil man unterlassen hat, dafür an anderer Stelle etwas abzuschaffen oder klarer zu strukturieren, ist das Gesamtsystem völlig unübersichtlich und absurd bürokratisch geworden. Da wurde System auf System auf System gepflanzt. Heute gibt es so viele Überlappungen und Doppelarbeit, dass die Vereinten Nationen manchmal einen Großteil ihrer Energie darauf verwenden, gegen sich selbst zu arbeiten.

In dieses teure und ineffektive Chaos Ordnung zu bringen, daran haben sich schon viele die Zähne ausgebissen. Kofi Annan ist es gleich zu Beginn seiner Amtszeit gelungen, einige Finanz- und Managementreformen im Sekretariat durchzusetzen, aber die wichtigen Reformvorschläge, die er 2005 mit dem Bericht „In larger Freedom“ und 2006 mit dem Bericht des High Level Panels zur Kohärenz des VN-Systems vorgelegt hatte, liegen bis heute auf Halde. Hinter der Systemsklerose verstecken sich wie so oft Beharrungskräfte und Interessenskonflikte unter den Mitgliedsstaaten. Besonders die kleinen Staaten, insbesondere auch die Entwicklungsländer, befürchten, dass nach Effizienzreformen und Schlankheitskuren dann doch nur noch weiße Westler auf den Stühlen sitzen bleiben. Wenn man sich ansieht, mit welcher Selbstverständlichkeit die Führung der großen Unterorganisationen unter den großen, reichen Mitgliedsstaaten aufgeteilt wird, dann ist diese Furcht durchaus nachzuvollziehen (und natürlich ist auch die Tradition, dass der Chef der Weltbank ein Amerikaner sein muss und der Kopf des IWF ein Europäer, längst ein Anachronismus).

Die wichtigste Personalfrage der Vereinten Nationen ist zweifelsfrei die des Generalsekretärs, diesem „säkularen Papst“, wie es der wohl größte unter ihnen, Dag Hammarskjöld, einst ausgedrückt hatte. In der Position des Generalsekretärs kulminieren all die Widersprüche der VN, er soll ein Diener der Mitgliedstaaten sein und doch auch die globale Autorität der VN verkörpern, er muss ein diplomatisches Genie sein und ein gewiefter Technokrat, der die Mammutbehörde bändigen kann, er muss still und laut sein können zugleich. Es hat einige gegeben, die dieser Beschreibung nahekamen, und andere, für die diese Schuhe von vornherein zu groß waren oder die zerrieben wurden zwischen den Interessen. Wenn es gelänge, den Ernennungs- und Wahlprozess ein klein wenig transparenter zu gestalten, vielleicht ein ganz klein wenig aus den Klauen der großen Mächte zu befreien, die ihr zynisches Interesse an einem möglichst schwachen Generalsekretär oft kaum zu verbergen versuchten, dann könnte die VN vielleicht ihr Kräftereservoir endlich stärker ausnutzen.

Wenn es denn doch darum ginge, eine kräftige VN zu haben…

Wie sehr nicht nur den Mitgliedsstaaten, sondern teilweise auch der VN selbst der Wille fehlt, das eigene intellektuelle Kräftepotenzial ernst zu nehmen und zu nutzen, das sieht man auch daran, dass immer noch viel zu viele Berichte für den Papierkorb geschrieben werden. Ich habe damit meine ganz eigene Erfahrung gemacht: als ich in der ersten Sitzung des High Level Panels zur Post-2015 Agenda naiv danach fragte, ob es denn aus Gründen der inhaltlichen Kontinuität eine Aufarbeitung vergangener Experten- und Panelberichte der VN zu den verschiedenen Themen gäbe, da wurde ich angesehen, als hätte ich gerade verlangt, den nächsten Generalsekretär per Facebook-Abstimmung zu wählen. Offenbar war überhaupt nicht vorgesehen, an vergangene Diskussionsprozesse als Ausdruck einer inneren Lernkultur oder als Zeichen der intellektuellen Selbstachtung der VN anzuknüpfen. Auch das trägt leider nicht zur Kohärenz der VN als eigenständig denkender Organisation bei.

Lassen Sie mich zwei letzte Punkte ansprechen zum ewigen Widerstreit zwischen Beteiligung und Effektivität bei den VN.

Erstens: Ich glaube, dass uns durch die neuen Medien und die ungeheure Professionalisierung der internationalen Zivilgesellschaft eine Beteiligungsrevolution bevorsteht, die auch die Vereinten Nationen verändern wird, und zwar zum Positiven. Nicht, weil nun mit großem bürokratischem Aufwand eine Pseudo-Partizipation organisiert würde, sondern weil die kollektive Intelligenz und der Wettlauf um die besten Ideen auf der Graswurzelebene an vielen Stellen den Widerspruch zwischen Beteiligung und Effektivität aufheben könnte. Wie das funktionieren kann, das hat das Beispiel der Anti-Personenminen-Konvention gezeigt, die vor allem einer sehr hartnäckigen und sehr kreativen Koalition von globaler Zivilgesellschaft und einigen wenigen Pionierstaaten zu verdanken ist. Dies verlangt allerdings nicht zuletzt auch auf Seiten der NGOs, denen Engstirnigkeit und Egoismus ja auch nicht fremd ist, ein Umdenken.

Denn, zweitens, gilt auch für das Dilemma zwischen Beteiligung und Effektivität, dass nur eine Haltung der Selbstbeschränkung zu einer fruchtbaren Balance führt. Nur wenn nicht immer in jeder Frage und bei jeder Stellenbesetzung alle ein Stück vom Kuchen abbekommen wollen ist der Kuchen noch nahrhaft. Eine solche Haltung wird aber erst realistisch, wenn Vertrauen herrscht – unter den Staaten und in die Organisation. Vertrauen ist die wichtigste und doch am meisten vernachlässigte Ressource in der internationalen Politik. Dies ist keine Forderung nach blindem, naivem Vertrauen in andere, sondern vor allem danach, die jeweils eigene Bringschuld in Sachen Glaubwürdigkeit ernst zu nehmen. Um Vertrauen aufzubauen, halte ich außerdem einen neuen Wertedialog in der internationalen Politik für unerlässlich, und damit komme ich zu meinem dritten Grundparadox der VN.

V.

Das letzte Spannungsfeld, über das ich heute sprechen will, handelt von Werten.

Versteckt sich hinter dem Anspruch der VN, universelle Werte und Normen zu vertreten, am Ende nicht doch ein westliches Projekt? Und wie verträgt sich die Universalität mit dem Respekt vor der Vielfalt der Kulturen?

Die Diskussion etwa um die Universalität der Menschenrechte ist so alt wie die Idee selbst, und diese Fragen verdienten eigentlich einen eigenen abendfüllenden Vortrag. Ich möchte trotzdem ganz kursorisch darauf eingehen, auch wenn ich mir bewusst bin, dass das Potenzial für Missverständnisse bei diesem Thema groß ist. Aber die Frage nach unseren gemeinsamen Werten und der Vielfalt der Kulturen stößt so sehr in den Kern des Selbstverständnisses der VN, dass ich heute nicht darauf verzichten möchte.

Zunächst: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat die Vereinten Nationen nicht nur als Zweckgemeinschaft definiert, sondern ihr endgültig auch eine normative Orientierung gegeben. Wir sollten Eleanor Roosevelt, die als Vorsitzende der Menschenrechtskommission maßgeblich an der Erarbeitung beteiligt war, dankbar dafür sein – übrigens bis heute eine der wenigen Frauen, die prägend für die VN-Geschichte waren (und ganz ohne Zweifel würde der Institution eine Generalsekretärin gut zu Gesicht stehen). Die Menschenrechtserklärung macht die Grundspannung explizit, die schon in der Charta angelegt ist: nämlich jene zwischen der absoluten Souveränität der Staaten und dem Prinzip der Nichteinmischung auf der einen Seite, wie ich es vorhin angesprochen habe, und der Verpflichtung andererseits, die Menschenrechte und grundlegende Freiheiten zu respektieren. Damit wurden staatlichem Handeln also Grenzen auferlegt, die nicht nur die Beziehungen zu anderen Staaten betreffen, sondern auch die von Staaten zu ihren Bürgern.

Kofi Annan hat einmal darauf hingewiesen, dass er das Argument, bürgerliche Freiheiten und fundamentale Menschenrechte seien ein westliches Konzept, nur von Regierungen hört, kaum von Bürgerinnen und Bürgern selbst. Denn niemand will für seinen Glauben ins Gefängnis gesperrt werden, und kein Mädchen würde behaupten, es gehöre zu seiner Kultur, dass es nicht in die Schule gehen darf. Die Vereinten Nationen sind somit immer auch Anwalt jener Millionen und Milliarden gewesen, die durch Armut und Unfreiheit in ihrer Würde verletzt wurden, sind Alliierte der Ausgegrenzten auch und gerade gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten. Ich erinnere nur daran, dass die Generalversammlung der VN eine der aktivsten Verbündeten Nelson Mandelas außerhalb Südafrikas war, um das System der Apartheid zu delegitimisieren. Und die Menschenrechtskonventionen, von der Kinderrechtskonvention bis hin zur Behindertenrechtskonvention, die von der überwältigenden Mehrheit der Mitgliedsstaaten ratifiziert wurden, etablierten globale Normen, die von Menschen im Süden wie im Norden gegenüber ihren Regierungen eingefordert werden können. Der Vorwurf, die Menschenrechte würden die Vielfalt der Kulturen nicht respektieren, geht also ins Leere, geht es doch genau darum, die Vielfalt der menschlichen Existenz zu schützen.

Dennoch glaube ich nicht, dass wir uns auf dem formalen Argument ausruhen dürfen, dass es mit der Menschenrechtserklärung, dem Zivil- und dem Sozialpakt sowie den Menschenrechtskonventionen, die ja auch von fast allen nicht-westlichen Staaten unterzeichnet wurden, keinen Diskussionsbedarf mehr über ein gemeinsames Wertefundament der Menschheit gibt. Dafür sind die Herausforderungen zu groß und der bestehende Konsens offenbar zu brüchig. Wir haben noch nicht wirklich eine Antwort auf die Frage gefunden, wie wir in dieser Moderne Vielfalt zulassen, unterschiedliche Vorstellungen über Entwicklung und gesellschaftliches Zusammenleben. Und die kulturelle Arroganz des Westens, wie sie sich z.B. nach dem Ende der Sowjetunion gelegentlich manifestierte, war und ist hier nicht wirklich hilfreich. Dabei ist es eine drängende Aufgabe für unsere vernetzte Erdfamilie, eine kollektive Empathie basierend auf einem Grundstock gemeinsamer Werte zu entwickeln, damit wir mehr werden als bloß eine Weltgesellschaft von Zwangssolidarisierten, die durch grenzüberschreitende Probleme aneinander gekettet sind. Und wir brauchen dieses globale Bewusstsein auch deshalb, weil wir dann endlich auch einer Politik der Langfristigkeit mehr Raum geben könnten, die sich auch an den Lebenschancen zukünftiger Generationen orientiert. Wo wäre ein besserer Ort, sich dieser Aufgabe zu stellen, als bei den Vereinten Nationen?

Wir im Westen brauchen keine Angst davor haben, einen Wertedialog zu führen, und wir sollten uns dem auch nicht aus Bequemlichkeit entziehen. Wir müssen offen sein, zuhören lernen – nicht um die Menschenrechte zu verwässern oder zu relativieren, sondern um sie zu ergänzen. Hinweise kann uns da etwa das stärker am Kollektiv ausgerichtete Gesellschaftsmodell vieler afrikanischer oder asiatischer Kulturen geben, oder auch die Idee der Menschenpflichten, die auf Gandhi zurückgeht, und die 1997 von Menschen wie Helmut Schmidt, Jimmy Carter oder Lee Kuan Yew in einer „Universal Declaration of Human Responsibilities“ festgehalten wurde.

Die Idee, dass es Werte gibt, die alle Menschen über Kulturen und Religionen hinweg teilen, kurz: ein Weltethos, hat nicht zuletzt Hans Küng aus einem beispiellosen Lebenswerk der Religionsforschung entwickelt. Das Projekt eines Weltethos hat weiterhin eine solche Relevanz, ja, Sprengkraft, dass wir es nicht verdorren lassen dürfen in technokratischem VN-Jargon. Wir müssen eine Sprache entwickeln, die in den verschiedenen Kulturen klingen kann. Ersticken wir also das Gespräch über gemeinsame Werte nicht in dem Beharren, alles so zu formulieren, dass es in unseren liberalen und progressiven Gesellschaften keinen Anstoß nimmt. Eine VN, die so klingt wie eine westeuropäische NGO, wäre mir jedenfalls suspekt.

Müsste uns nicht ohnehin eine globale Werteordnung misstrauisch machen, die bei uns im Westen so gar keine Reibung erzeugt und somit keinen Veränderungsimpuls auslöst? Die Menschenrechte und die damit verbundenen grundlegenden Normen sind doch keine Erziehungsfolklore für Entwicklungsländer und böse Diktaturen, sondern vor allem Selbstverpflichtung! Was ich also vorhin für das Missachten von Regeln bezüglich des Völkerrechts gesagt habe, das gilt natürlich auch für die Menschenrechte: Die größte Bedrohung für universelle Normen geht nicht von jenen aus, die ihre Existenz grundsätzlich in Zweifel ziehen, sondern von jenen, die sie lautstark unterstreichen, dann aber anders handeln. Und in dieser Hinsicht erwarte ich mir auch ein sehr kritisches Gespräch des Westens mit sich selbst. Ich bin heute noch fassungslos über die Chuzpe, mit der die USA ihre Folterpolitik gerechtfertigt haben, und die orientierungslose Gleichgültigkeit, mit der Europa darauf reagiert hat. Das sind Dinge, die der Glaubwürdigkeit des Multilateralismus als normativem Projekt enormen Schaden zugefügt haben.

Wenn ich darüber nachdenke, welche Reibung der universelle Anspruch von Menschenwürde bei uns im Westen erzeugen könnte, wenn man ihn nur ernst nähme, dann stoße ich schnell auf unseren Lebensstil. 20% der Weltbevölkerung konsumieren 80% der Ressourcen, und wenn alle Menschen unseren Ressourcenverbrauch hätten, bräuchten wir mehrere Planeten in Reserve. Das normative Projekt der Vereinten Nationen muss, wenn man es zu Ende denkt, auch unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem hinterfragen, z.B. Ausprägungen des Kapitalismus, denen Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung egal ist. Der deutsch-amerikanische Philosoph Vittorio Hösle richtet diese Frage an jeden Einzelnen von uns mit der Feststellung: „Da die Universalisierbarkeit das Prinzip der modernen Ethik ist, besagt die Einsicht, dass unser Lebensstil nicht universalisierbar ist, nach den eigenen Maßstäben der Moderne nichts anderes, als dass er unmoralisch ist.“

Wir brauchen also auch hier eine neue Idee der Selbstbeschränkung, und zwar nicht der politischen, sondern der materiellen. Dabei geht es nicht um einen „ökologischen Calvinismus“, wie Peter Sloterdijk das einst verspottet hat. Es geht um die Frage, ob wir möglicherweise Lebensqualität dadurch gewinnen können, dass wir unser Glück weniger von materiellen Dingen abhängig machen und indem wir dem Hamsterrad der fortwährenden Konsumsteigerung entkommen. Das kann gelingen, wenn wir nicht nur eine Effizienzrevolution unserer Produktionsweisen initiieren, sondern auch eine Suffizienzrevolution in unserer Kultur. Der Erfolg einer solchen Suffizienzrevolution könnte am Ende entscheidend von der Bereitschaft abhängen (hier zitiere ich nochmal Vittorio Hösle) den eigenen Erfolg „nicht über die Bedürfnishöhe zu definieren, sondern im Gegenteil aus der Beschränkung der eigenen Bedürfnisse das Gefühl der eigenen Würde zu beziehen“.

VI.

Meine Damen und Herren,

Ich habe am Anfang meiner Rede vergessen, Sie zu warnen, dass ich heute Abend kein Reformprogramm der Vereinten Nationen präsentieren werde. Dennoch komme ich jetzt in diesem letzten Teil zu einem Thema, von dem ich glaube, dass es eine große Chance für die Zukunft der Menschheit und der Vereinten Nationen darstellen kann, ohne nun den Anspruch zu erheben, eine Lösung für alle von mir heute aufgeworfenen Fragen zu liefern.

Sie ahnen es vielleicht schon, ich spreche von der „2030 Agenda for Sustainable Development“, die vor vier Wochen in New York nach einem mehrjährigen Erarbeitungsprozess verabschiedet wurde.

Die 2030 Agenda, bisher unter dem Arbeitstitel „Post-2015 Agenda“ bekannt, führt die Idee der Millennium-Entwicklungsziele fort, die im Jahr 2001 formuliert wurden. Es ist dies nun ein Katalog nicht von acht, sondern von 17 globalen Entwicklungszielen mit 169 Unterzielen, welche die Weltgemeinschaft bis zum Jahr 2030 erreichen soll.

Wie jeder Plan, der nach langen Diskussionen endlich finalisiert wird, sind auch hier die Kritiker schon in Position: „zu ehrgeizig“, schreien die Realisten, „nicht ehrgeizig genug“, schreien die Idealisten, und viele sind schon so gleichgültig, dass sie überhaupt nichts schreien, weil sie ohnehin überzeugt sind, dass das ein weiterer VN-Prozess für den Papierkorb ist. Natürlich kriege auch ich Kopfschmerzen, wenn ich die Zahl 169 höre. Aber wenn man sich all die Widersprüche vor Augen führt, an denen die VN zu knabbern hat, dann ist dieses Ergebnis kein schlechter Kompromiss. Natürlich kann auch diese Agenda das Dilemma nicht lösen, dass souveräne Staaten nur schwer sich einer höheren Zielüberprüfungsbehörde unterordnen, also basiert auch die 2030 Agenda auf freiwilliger Selbstverpflichtung und der Hoffnung, dass gegenseitige Rechenschaftslegung und stetiger Druck aus der Zivilgesellschaft genügend Veränderungsbereitschaft generiert.

Viel wichtiger als diese Unvollkommenheiten, die jedem Kompromiss inhärent sind, auf den sich 193 Staaten einigen müssen, scheint mir der Konsens, der in dieser Agenda steckt. Da ermutigt mich Grundlegendes:

Erstens haben sich die Staats- und Regierungschefs darauf geeinigt, dass die extreme Armut bis 2030 ausgerottet werden muss – und dass dies auch möglich ist. Ich wurde neulich gefragt, ob ich denn wirklich daran glaube, dass das realistisch ist. Ja, natürlich! Die Menschheit hat all das Wissen, all das Geld, all die Technologie, die nötig ist, um die extreme Armut zu beenden, und es wäre arg bequem gewesen, zu sagen, soweit wollen wir uns nicht strecken. Die globale Armutsfrage ist heute vor allem anderen eine Frage des politischen Willens, und ich hoffe sehr, dass die nationale und internationale Zivilgesellschaft die Füße ihrer Regierungen stets ans Feuer hält, um sie an den Willen zu erinnern, den sie im September 2015 bekundet haben. Denn die Agenda ist zwar auch eine Agenda, welche die Vereinten Nationen als Organisation sich auf die Fahnen schreibt, aber sie ist in erster Linie eine Agenda der Mitgliedstaaten.

Und zwar aller Mitgliedstaaten. Dies ist der zweite Konsens, der sich zwischen den Zeilen der Ziele verbirgt: Wir können die extreme Armut nicht ausrotten, wenn wir dabei unseren Planeten ökologisch vor die Wand fahren. Und damit dies gelingt, brauchen wir Veränderung überall, im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden. Die 2030 Agenda ist also kein Entwicklungsprogramm für arme Länder, sondern eine universelle Transformationsagenda: sie nimmt auch – und nach meinem Verständnis besonders – die Industrieländer in die Pflicht, die vor allem ihre Produktions- und Konsummuster ändern müssen.

Ich sehe in dem neuen Zielkatalog der VN die Chance, dem jetzigen Zustand der Welt extremer Ungleichheiten, des Klimawandels, der Konflikte und Kriege und Flüchtlingskatastrophen eine strategische Alternative, ein neues Narrativ entgegenzusetzen: die Alternative der globalen Partnerschaft, ein Narrativ der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Nutzen und zum Wohle aller Nationen. Die Implementierung der 2030 Agenda for Sustainable Development könnte dann ein Ausdruck sein der von Carl Friedrich von Weizsäcker schon vor Jahrzehnten angemahnten „gemeinsam angewandten Vernunft“ oder des „common sense“ im Parlament der Menschheit aus Trumans Lieblingsgedicht von 1837. Ich bin gespannt, wie stark die deutsche Politik sich dieser Agenda der Vernunft verschreiben wird. Baustellen gibt es ja genug. Schaffen wir die Effizienz- und Suffizienzrevolution?

Ich halte es für möglich, mit der 2030 Agenda die Vereinten Nationen zu einer echten universellen Organisation werden zu lassen, die eine langfristig angelegte weltweite Transformation hin zu Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle organisiert, anstatt zu einer Agentur zur Bekämpfung humanitärer Krisen zu verkümmern. Der Auftrag liegt auf dem Tisch. Jetzt müssen den Worten nur Taten folgen. Kann diese Generation der Weltführer jetzt Mut und Führung beweisen wie die Vorgänger 1945?

VII.

Meine Damen und Herren,

70 Jahre nach ihrer Gründung auf den Ruinen des 2. Weltkriegs braucht die Welt eine starke VN mehr als je zuvor. Natürlich ist der derzeitige Zustand der VN-Organisation mehr als inadäquat, um auf die riesigen globalen Herausforderungen und den Bedarf an global governance zu reagieren. Aber der gordische Knoten einer umfassenden VN-Reform wird so schnell nicht zerschlagen werden. Vielmehr ist die VN das dickste aller Bretter, das es zu bohren gilt, langsam und geduldig, an vielen Stellen gleichzeitig. Und einige Widersprüche und Spannungen werden sich nie auflösen lassen, so ist das Wesen des Menschen und der Politik, der internationalen allemal. Es wäre daher ein Fehler, die VN nur unter der Bedingung ernst zu nehmen, dass sie sich reformiert. Erst umgekehrt wird ein Schuh daraus: wenn die Mitgliedstaaten den Multilateralismus und damit die Vereinten Nationen wieder ernst nehmen und echtes politisches Kapital investieren, dann wird es auch zu Reformen kommen können.

Ich habe Hoffnung, dass die Einsicht in die Notwendigkeiten der Interdependenz dazu beiträgt, dass die Mitgliedstaaten, besonders die großen und die reichen, ihre nationalen Interessen in neuem Lichte betrachten. Die Interdependenz zwingt zur Kooperation. Verweigern wir uns, so kommt das Problem mit doppelter Wucht als Bumerang zurück. Das sieht man nicht zuletzt an der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Hören wir den Weckruf?

Ich möchte nun jenem das Wort überlassen, der die UN geprägt hat wie wenige andere, und dessen moralische Autorität bis heute wirkt, Dag Hammarskjöld. Als ich seine Worte las, die aus dem Jahr 1953 stammen, war ich mir nicht sicher, was überwiegt: meine Bewunderung dafür, wie sehr Hammarskjöld seiner Zeit voraus war, oder mein Erstaunen, wie aktuell seine Worte auch 50 Jahre später noch sind. So oder so: es ist eigentlich alles gesagt.

Dag Hammarskjöld also: „Wenn wir die Welt zu verändern versuchen, müssen wir ihr begegnen, wie sie ist. Jene sind verloren, die nicht die grundlegenden Tatsachen der internationalen Interdependenz zu konfrontieren wagen. Jene sind verloren, die sich durch Niederlagen zurück zum Ausgangspunkt eines engen Nationalismus ängstigen lassen. Jene sind verloren, die sich so sehr vor einer Niederlage fürchten, dass sie über die Zukunft verzweifeln. Für all jene mögen die dunklen Prophezeiungen gerechtfertigt sein. Aber nicht für jene, die sich verbieten, ängstlich zu sein; und auch nicht für jene Organisation, die das Instrument darstellt, welches für ihren Kampf zur Verfügung steht – ein Instrument, das zerstört werden kann, aber das, falls dies passiert, wiederaufgebaut würde und sicherlich wird, wieder und wieder“.

Vielen Dank.