Von der Unmöglichkeit, über Afrika zu sprechen

Afrika-Tage des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
Berlin, 18. März 2014



I.

Lassen Sie mich damit beginnen, dass ich mit einem Missverständnis aufräume: Horst Köhler ist kein Afrika-Experte. Im Jahr 2000 kam ich als frischgebackener Chef des Internationalen Währungsfonds zum ersten Mal nach Afrika. Im Gepäck hatte ich kluge Dossiers und Konzepte, die mir von meinem Stab vorbereitet worden waren. Aber nach vielen Gesprächen mit Staats- und Regierungschefs und Parlamentariern, mit Kleinunternehmern, Bauern und Kunstschaffenden, mit einfachen Männern und Frauen, habe ich nach und nach zwei Dinge erkennen müssen, erkennen dürfen: erstens, die Realität in Afrika ist so viel komplexer als es die fertigen Papiere suggerieren. Zweitens, der Titel „Afrika-Experte“ ist in 90% der Fälle entweder Schmeichelei oder Selbstüberschätzung. Jeder meiner Gesprächspartner wusste so viel mehr über Afrika als ich je verstehen könnte. Und je mehr ich über Afrika gelernt habe, umso mehr wurde mir bewusst, wie viel es noch zu lernen gibt. Dieses Gefühl hat mich bis heute nicht verlassen – und ich bin froh darum. Deshalb möchte ich heute meine Redezeit nutzen, um – nun, um Ludwig Wittgenstein zu widersprechen. Der hat nämlich vor knapp hundert Jahren zum Abschluss seines Grundlagenwerks Tractatus geschrieben: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Meiner heutigen Rede habe ich den Titel gegeben: „Von der Unmöglichkeit, über Afrika zu sprechen“. Ich möchte von meinen Schwierigkeiten mit unserer Afrika-Sprache, unserem Afrika-Bild, berichten, und doch nicht darüber schweigen – sonst wären die nächsten 30 Minuten auch eher langweilig für Sie.

Jedes Nachdenken über Afrika fängt bei den Bildern im Kopf an. Bei Afrika denken viele vor allem an Wörter, die mit K anfangen: Krisen, Konflikte, Kriege, Katastrophen, Krankheiten, Korruption… Henning Mankell schreibt dazu: „Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts darüber, wie sie leben“. Und die Journalistin Veye Tatah beklagt: „Das unspektakuläre, alltägliche Leben der Afrikaner findet in den Berichten selten Platz, die aktiven Protagonisten sind immer der ‚hilfreiche‘ Westen, und die passiven Hilfsempfänger sind meistens die Afrikaner.“ Im Durchschnitt ist ein einzelner deutscher Korrespondent in Afrika für 33 Länder zuständig, und das in Regionen, die schwer zugänglich sind, mit geringen Reisebudgets und Sprachkenntnissen. Wie viel Präzision, Verständnis, Differenzierung in der Medienberichterstattung erlaubt das?

In Spielfilmen wiederum, wo oft das Klischee der weiten Steppen und schönen Sonnenuntergänge bedient wird, dient Afrika oft nur als Kulisse für weißen Herzschmerz, wo Afrikaner, in den Worten des amerikanisch-nigerianischen Autors Uzodinma Iweala, nur als „Requisiten gebraucht werden in einer Fantasie des Westens seiner selbst“. Sein großer Landsmann Chinua Achebe warnt davor, Afrika nur als Projektionsfläche Europas zu sehen, als „Kulisse und Hintergrund, der den Afrikaner als menschlichen Faktor eliminiert“.

Selbstverständlich können und müssen wir uns frei machen von Stereotypen über Afrika. Aber können wir unseren eurozentrischen Deutungsmustern wirklich entfliehen? Unsere Definition von Afrika kann doch nur unvollständig, unsere Interpretation von Afrika nur verzerrt sein; und wir müssen erkennen, dass unser Bild von Afrika mehr über uns aussagt als über Afrika.

Und selbst jene unter uns, die sich bewusst Informationen suchen, welche nicht einfach die bekannten Mythen über Afrika perpetuieren, können nicht das Gewicht der Geschichte abwerfen, das schwer auf uns Europäern lastet. Unser weißes Sprechen über Afrika hat schon längst seine Unschuld verloren. Darüber müssen wir uns neu bewusst werden.

Zum historischen Bewusstsein gehört das Wissen um die Berliner Konferenz, die 1884, also vor genau 130 Jahren, an einem verschneiten Novembertag hier in der Wilhelmstraße in Berlin begann, die unter der Leitung Bismarcks die Grundlagen legte für die koloniale Aufteilung Afrikas, und die dem belgischen König ein gigantisches Gebiet von 2,3 Millionen Quadratkilometern, dem Kongo, als sein Privatbesitz zuschusterte, woraufhin in den darauffolgenden Jahren nach Schätzungen bis zu 10 Millionen Menschen ihr Leben verloren in einem der größten Menschheitsverbrechen der Moderne.

Zum historischen Bewusstsein gehört der Blick auf die Geschichte Ruandas, wo zuerst deutsche und dann belgische Kolonialherren aus lose bestehenden sozialen Gruppen die hierarchisch geordneten Ethnien der Hutu und Tutsi schufen, um ihr Herrschaftssystem besser organisieren zu können, was schließlich 1994, also vor genau 20 Jahren, in den brutalen Genozid an über 800.000 Männern, Frauen und Kindern mündete.

Zum historischen Bewusstsein gehört die Erinnerung an den Völkermord an den Hereros, der 1904, also vor genau 110 Jahren, durch den „Vernichtungsbefehl“ des preußischen Offiziers Lothar von Trotha begann.

Zum historischen Bewusstsein gehört die Erkenntnis, dass Afrika während des kalten Krieges zum Spielball der großen Mächte gemacht wurde, und dann nach Ende des kalten Krieges brutal fallengelassen worden ist.

Man muss das so deutlich sagen: Historisch gesehen ist der rote Faden der Beziehungen mit Afrika keiner der Partnerschaft, schon gar nicht der Freundschaft, es ist ein roter Faden der Objektbehandlung. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es geht nicht um westliche Selbstgeißelung, vielleicht auch nicht um Schuld, und schon gar nicht um plumpe Schuldzuweisung bei der Ursachenklärung aktueller Probleme. Es geht vielmehr um ein Bewusstsein unserer gemeinsamen, belasteten Geschichte. Es geht um die Ahnung, dass viele koloniale und post-koloniale Einstellungen noch heute weiterleben, mal unbewusst schlummernd, mal schamlos offen. Afrika als Objekt zu sehen und zu behandeln, haben wir das wirklich überwunden? Habe ich das überwunden?

Nein, ein Afrika-Experte bin ich nicht, ich kann es auch nicht sein. In unserem europäischen, unserem eurozentrischen Sprechen von Afrika liegt also immer etwas Vergessenes, Verzerrendes, Verengendes; darin liegt die erste Unmöglichkeit.

II.

Die zweite Unmöglichkeit, meine Damen und Herren, hat einst der legendäre, aus Polen stammende Afrika-Reporter Ryszard Kapuscinski benannt: „Dieser Kontinent ist zu groß, als dass man ihn beschreiben könnte. Er ist ein regelrechter Ozean, ein eigener Planet, ein vielfältiger, reicher Kosmos. Wir sprechen nur der Einfachheit, der Bequemlichkeit halber von Afrika. In Wirklichkeit gibt es dieses Afrika gar nicht, außer als geographischen Begriff“

Und selbst geographisch kann der Begriff Afrika unscharf sein – meinen wir damit den gesamten Kontinent, inklusive Nordafrika? Oder meinen wir Sub-Sahara Afrika? Können wir wirklich in diesem einen Wort „Afrika“ zusammenfassen, was allein geographisch riesige Flächenländer wie die Demokratische Republik Kongo und Zwergstaaten wie Burundi umfasst, ressourcenreiche Küstenländer und ressourcenarme Binnenstaaten, Länder inmitten der Wüste und Inseln inmitten des Ozeans? Kann, jenseits der Geographie, unsere Idee von „Afrika“ wirklich die komplexe soziale Realität dieses Kontinents erfassen? Die 20 Länder mit der größten ethnischen Diversität weltweit liegen ausnahmslos in Afrika. Kein Kontinent hat mehr Religionen und kein Kontinent mehr Sprachen als Afrika.

Die Ehrfurcht vor der Vielfalt dieses Kontinents muss unserem Sprechen über Afrika Demut lehren.

Ohne Demut wird jeder Versuch, pauschale Aussagen, Schlüsse und Urteile über Afrika zu treffen, in einer hilflos vermurksten Version selektiver Wahrheit enden. Afrika entzieht sich den Entschiedenheiten und Absolutheiten, nach denen wir uns so sehnen, gerade auch in Politik und Medien. Afrika ist nichts für Adepten der Eindeutigkeit.

Das wird deutlich, wenn wir uns die großen Erzählungen über Afrika anhören, die derzeit miteinander konkurrieren.

Da gibt es etwa seit einigen Jahren das neue Motiv des „Chancenkontinents“, das versucht, das Negativ-Image des „Krisenkontinentes“ abzuschütteln. Und ja, wer nun von Afrika als neuer globaler Wachstumsregion spricht, wer nun die Geschichte vom Kontinent der Chancen erzählt, von den neuen Löwenstaaten, vom afrikanischen Wirtschaftswunder, der hat überhaupt nicht Unrecht. In den ersten 10 Jahren dieses Jahrtausends befanden sich 6 der 10 am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt auf dem afrikanischen Kontinent, viele mit Wachstumsraten von 7% und mehr, von denen Europa nur träumen kann. Afrikas Auslandsschulden sind von 63% des BIPs im Jahr 2000 auf 25% im Jahr 2010 gesunken; mit so einer Kennzahl makroökonomischer Stabilität wäre die Eurokrise längst Geschichte. Aber auch diese Erzählung ist eben nur eine selektive Wahrheit, denn natürlich gibt es weiterhin viele Länder in Afrika, die wirtschaftlich nicht boomen, sondern brachliegen. Und selbst in den dynamischen Wachstumsländern kommt das Wachstum viel zu selten bei den Menschen an. Trotz der wachsenden Mittelschicht haben schätzungsweise nur 4% der Afrikaner ein Einkommen von mehr als 10 USD pro Tag. Was wächst, ist eben vor allem auch die extreme Ungleichheit. Was nun ist „Afrika“?

Und ja, wer sagt, dass das heutige Afrika urbaner ist als je zuvor, der hat völlig Recht. Die Stadtbevölkerung wächst mehr als doppelt so schnell wie die Landbevölkerung. Auf der Liste der Millionenstädte der Welt gibt es 32 Metropolen aus Europa, aber 46 aus Afrika. Allein die Bevölkerung von Lagos in Nigeria hat sich in 60 Jahren vervierzigtfacht; Lagos ist mit offiziell geschätzten bis zu 21 Millionen Einwohnern heute eine der größten Mega-Metropolen des Planeten. Recht hat aber auch, wer darauf hinweist, dass immer noch etwa 70% der Afrikaner auf dem Land leben und der Anteil der Landbevölkerung unter den armen Menschen sogar noch darüber liegt. Recht hat also auch, wer betont, dass die großen Herausforderungen für Bildung, Gesundheitsversorgung, Energie usw. immer noch auf dem Land liegen. Was nun ist „Afrika“?

Und ja, natürlich hat Recht wer betont, dass die meisten fragilen Staaten dieser Erde immer noch in Afrika liegen, dass zahlreiche afrikanische Länder chronisch überfordert, instabil und zerrissen sind. Natürlich gibt es die Kriegsverbrecher, die Despoten, die Nimmersatten, die nicht das geringste Interesse am Ende der Armut und das größte Interesse an der Schlussbilanz ihrer Offshore-Konten haben. Und natürlich gibt es die Ausgrenzung, die Repression, oder die abscheulichen Gesetze der jüngeren Zeit gegen sexuelle Minderheiten, die einem das Herz zuschnüren und an der Menschlichkeit unserer Spezies zweifeln lassen. Aber es gibt eben auch die Tapferen, die Menschenrechtsverteidiger, die Anti-Korruptions-Aktivisten, eine immer stärker und selbstbewusster werdende Zivilgesellschaft; die Frauen, die für Frieden kämpfen, und die Menschen mit Behinderungen, die sich immer mehr für Inklusion engagieren, und die kleinen Bauerngruppen, die lautstark ihre Rechte einfordern; und sie alle sind Afrika; und sie alle rennen nicht plump einem westlichen Wohlstandsmodell hinterher, sondern treten ein für ihre afrikanischen Vorstellungen eines Lebens in Würde. Und es gibt sie eben auch, die afrikanischen Politiker wie Nelson Mandela, der mit seiner Weitsichtigkeit und Versöhnungsfähigkeit ein Vorbild war nicht nur für Afrika, sondern für Politikgestaltung weltweit. Was nun ist „Afrika“?

Und schließlich: Jede Aussage über das Afrika von heute muss beinhalten, dass das Afrika von morgen ein anderes ist, denn keine Bevölkerung weltweit wächst schneller als jene Afrikas. Wenn ich mich zu einer pauschalen Aussage über Afrika hinreißen lasse, dann ist es diese: Afrika ist der Kontinent der Jugend. Schon jetzt ist es der jüngste Kontinent – die Hälfte der Afrikaner sind 18 Jahre oder jünger (bei uns in Deutschland liegt dieses sogenannte Median-Alter bei 45,7). Und bis zum Jahr 2050 wird sich die Bevölkerung Afrikas auf über 2 Milliarden verdoppeln. Dann wird Afrika wieder 1/5 der Weltbevölkerung stellen, wie es schon bis ins Jahr 1500 war, bevor Sklavenhandel, importierte Pandemien und später der Kolonialismus seine Bevölkerung drastisch reduzierten. Neben Wittgenstein möchte ich heute also auch Hegel widersprechen. Der schrieb einst, Afrika sei „kein geschichtlicher Weltteil“, er habe „keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen“. Dieser lächerliche Satz war schon damals nichts als falsch, grottenfalsch, und er könnte gerade heute falscher nicht sein. Das heutige Afrika ist ein Kontinent der rastlosen Bewegung, der permanenten Veränderung. Wer genau hinschauen möchte, der wird Zeuge einer Transformation von historischem Ausmaß. Dieser Weltteil wird die Geschichte des 21. Jahrhunderts prägen. Aber es ist eben eine Transformation voller Ambivalenzen. Über Afrika zu sprechen, das heißt Widersprüche und Paradoxien auszuhalten. Über Afrika zu sprechen heißt zu erkennen, dass sich Afrika viel schneller verändert als unser Bild von ihm.

Deshalb müssen wir wegkommen von der heimlichen Vorstellung von Entwicklung als kulturellem Bewertungsmaßstab, diesem Relikt des Kolonialismus: Je ähnlicher eine afrikanische Kultur der europäischen war, für desto entwickelter wurde sie gehalten. Hat sich daran wirklich viel geändert? Je vertrauter uns die Muster seiner Entwicklung vorkommen, je mehr wir von uns selbst in Afrika wiedererkennen, desto mehr Zutrauen haben wir in Afrikas Zukunft. Aber Entwicklung ist weder eine Kopiermaschine noch ist sie linear. Entwicklung ist übrigens auch kein Begriff, der als moralisches Urteil taugt. Können wir uns eine afrikanische Moderne vorstellen, die nicht als Endpunkt einer linearen Entwicklung hin zu durchtechnologisiertem und am Sozialprodukt messbaren Wohlstand im westlichen Sinne verstanden wird, sondern als etwas pluralistisches, sich in viele Richtungen entfaltendes, als ein Nebeneinander von Lokalem und Globalen, von Tradition und Innovation, kurz: eine afrikanische Moderne sui generis? Und dann, weiter noch, könnte daraus vielleicht ein Entwicklungsbegriff entstehen, der nicht mehr einteilt in „Entwicklungsländer“ und „entwickelte Länder“, sondern der deutlich macht, dass wir überall eine Entwicklung, eine Transformation unserer Gesellschaften brauchen, im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen? Aus einem solchen neuen Entwicklungsbegriff, der sich an der großen Transformation orientieren könnte, die uns angesichts von Ressourcenknappheit und Klimawandel allen bevorsteht, entstünde dann auch ein neuer Blick auf das Verhältnis Europas mit Afrika. Ein Verhältnis, das trotz aller bestehenden Asymmetrien Augenhöhe ermöglichte, ganz ohne Paternalismus und Belehrung. Dann lautete die Frage nicht mehr einfach „Was kann Afrika von den Europäern lernen?“ sondern auch „Was kann Europa von den Afrikanern lernen?“

Und damit kommen wir von den Unmöglichkeiten zu den Möglichkeiten. Denn wenn es unmöglich ist, über Afrika zu sprechen – weil unser Blick auf diesen Kontinent unweigerlich eurozentrisch verengt ist, und weil es Afrika außer als geographische Einheit gar nicht gibt – was bleibt uns dann? Uns bleibt, nicht über Afrika zu sprechen, sondern über uns und unseren Teil der Partnerschaft mit Afrika. Und es bleibt uns, nicht über Afrika zu sprechen, sondern mit den Afrikanern – ich komme gleich darauf zurück.

III­.

Doch zunächst zu uns und unseren Hausaufgaben. Ich bin heute nicht der einzige Redner, daher will ich mich auf einige wenige Beispiele begrenzen.

Erstens: Ich glaube, wir müssen unsere Afrikapolitik auch in den Kontext einer positiven Gestaltung der Globalisierung stellen. Sie muss eingebettet sein in eine grundsätzliche Werteorientierung deutscher Außenpolitik. Nie waren die Nationen und Völker voneinander abhängiger als heute. Was der Welt nicht gut tut, was Afrika nicht gut tut, das tut auf lange Sicht auch uns in Deutschland und Europa nicht gut – und umgekehrt. Wir müssen also endlich wieder mehr die strukturellen Rahmenbedingungen in den Blick nehmen, die eine positive Entwicklung Afrikas behindern: Unser derzeitiges Produktions- und Konsumsystem basiert häufig auf der Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten nach Asien und Afrika. Unser Beitrag zum Klimawandel trifft Afrika am stärksten. Unsere Agrarpolitik macht es Afrika nicht leicht, selbständig für Ernährungssicherheit zu sorgen, unsere Energiepolitik muss eine globale Perspektive einnehmen, und wir müssen sehr viel mehr politisches Kapital investieren, um endlich ein faires und entwicklungsfreundliches internationales Handelssystem zu schaffen. Viele dieser Themen werden auch im Rahmen der Weiterentwicklung der UN-Millenniumsziele, der sogenannten Post-2015 Agenda, diskutiert. Ich freue mich sehr, dass die Bundeskanzlerin und auch alle beteiligten Ressorts diesem Prozess eine hohe Priorität einräumen. Ich hoffe sehr auf eine profilierte und abgestimmte Position der Bundesregierung in dieser Sache. Deutschland kann beim Paradigmenwechsel in der internationalen Politik hin zu einer echten globalen Partnerschaft eine wichtige Rolle einnehmen.

Zweitens: Lassen Sie uns die deutsch-afrikanische Partnerschaft vor allem dort intensivieren, wo wir gute Erfahrungen beisteuern können. Natürlich muss ich da vor allem an die Bildung denken, diesem Schlüssel aller Schlüsselthemen für die Zukunft Afrikas. Chapeau, liebe Frau Prof. Wanka, dass Sie sich hier beherzt mit Ihrem Ministerium einbringen. Wir brauchen neue Aufmerksamkeit für die Qualität der Primarbildung, aber auch für die sekundäre und tertiäre Bildung, insbesondere auch die Berufsbildung. Hier freue ich mich auf die Initiativen des Bundesministerium für Bildung und Forschung und des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Der enorme Zuwachs an Jugendlichen in Afrika stellt enorme Anforderungen an das Bildungssystem. Gleichzeitig hilft die beste Bildung nichts, wenn es keine Arbeitsplätze gibt. Tatsächlich wird die Entwicklung Afrikas so stark wie nie zuvor vom Privatsektor getrieben. Ich würde mir wünschen, dass sich hier die deutsche Wirtschaft noch viel stärker und mutiger als bisher engagiert, insbesondere der deutsche Mittelstand, der nicht nur einen hervorragenden Ruf in Afrika genießt, sondern mit seinem lokal verwurzelten und sozial verantwortlichen Unternehmertum wichtige Impulse für eine inklusive Wirtschaftsordnung in Afrika geben kann. Ich bin oft erstaunt zu sehen, was sich mit deutschem Know-How und afrikanischem Unternehmergeist so alles erreichen lässt, zum Beispiel im Bereich der dezentralen Energieversorgung.

Und drittens: Es gibt ein afrikanisches Sprichwort, das lautet „Nimm dich in Acht vor dem nackten Mann, der dir Kleider anbietet“. Und ach, was sind wir Europäer nackt – mit unseren Doppelstandards und der bequemen Heuchelei gegenüber afrikanischen Missständen, an denen wir doch selbst beteiligt waren und sind. Wir müssen uns endlich unsere Glaubwürdigkeit zurückerobern.

Stichwort Korruption: Korruptionsbekämpfung ist keine Einbahnstraße. Die Korruption in Afrika trägt auch das Gesicht westlicher Konzernvertreter und die Nummer europäischer Bankkonten. Wir müssen also auch über den globalen Kleptokraten-Kapitalismus sprechen, der vor allem Afrika obszön gigantische Summen von Kapital entzieht, und zwar mehr, als über Entwicklungshilfe an den Kontinent fließt. Die Profiteure dieser Kapitalflucht sind nicht zuletzt europäische Banken, wo die Milliarden afrikanischer Despoten und steuervermeidender Konzerne gebunkert sind. Endlich das internationale Finanzsystem in Ordnung bringen und Steueroasen austrocknen, das wäre glaubwürdig!

Stichwort Umweltverschmutzung: Bei allem Reden über grünes Wachstum in Afrika sind es doch auch ausländische Firmen, die sich um ihren Müll einen Dreck scheren. Ich erinnere nur an die Katastrophe im Nigerdelta, wo auslaufendes Öl ganze Landstriche verseucht hat, aber gleichzeitig große Ölfirmen nur einen Bruchteil ihrer Milliardenprofite im Land lassen. Endlich Umweltstandards ernst nehmen und nachhaltige, überprüfbare Lieferketten schaffen, das wäre glaubwürdig!

Die Doppelmoral in der internationalen Politik ist gerade im Umgang mit Afrika exemplarisch zu spüren. Hier könnte sie auch exemplarisch überwunden werden. Denn Afrika hat längst gemerkt, dass der Kaiser keine Kleider anhat. Und es ist längst dabei, neues Selbstvertrauen zu gewinnen – in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht – und ist nicht mehr bereit, politisch veralbert zu werden. Das neue Afrika sucht glaubwürdige, ehrliche und ernsthafte Gesprächspartner. Ist Europa, ist Deutschland dafür bereit?

IV.

Und damit bin ich bei der zweiten Möglichkeit des Sprechens, und zwar nicht über Afrika, sondern mit Afrika. Wir müssen aufhören mit den Lektionen, mit den Urteilen, müssen das Zuhören lernen, müssen eine Kultur des gleichberechtigten Gesprächs entwickeln. Nach einer Vergangenheit europäischer Habgier braucht Afrika jetzt eine Zukunft europäischer Neugier, braucht weniger unserer Antworten und mehr unserer Fragen, gerade auch an uns selbst. Dazu gehört, dass wir deutlich aktiver als bisher afrikanische Stimmen in unsere deutschen Diskussionen holen – und deshalb freue ich mich, dass dies heute in Fragen der Zusammenarbeit in der Bildungs- und Forschungspolitik mit Herrn Kommissar Ikounga und Herrn Minister Broohm mit so hochrangiger Beteiligung aus Afrika geschieht. Ich plädiere darüber hinaus dafür, dass wir in Deutschland mehr über afrikanische Literatur, Kunst und Kultur wissen, dass wir nicht nur mit Politikern sprechen sondern auch mit den Künstlerinnen, den Aktivisten, den Landfrauen, den Ausgegrenzten; dass wir reisen nach Afrika, hoffentlich auch auf hoher politischer Ebene, und diese widersprüchliche, pluralistische und daher letztlich unbeschreibliche afrikanische Renaissance vor Ort erspüren.

Dann könnten wir die Geburtsstunde einer neu verstandenen Partnerschaft erleben. „Hilfe zur Selbsthilfe“, „Eigenverantwortung“ oder „Ownership“, das dürfen keine leeren Slogans sein, und schon gar nicht als Ausrede für Gleichgültigkeit gegenüber Afrika missbraucht werden, sondern müssen vielmehr Ausgangspunkt für Dialog sein und als Maßstab für das eigene Handeln gelten. Afrikanische Eigenverantwortung, das ist doch vor allem Selbstverpflichtung unsererseits: Selbstverpflichtung, unsere Zusammenarbeit und Unterstützung nicht an den Prioritäten der Partner vorbei zu organisieren, afrikanische Lösungen ernst zu nehmen und die afrikanischen Eigenkräfte zu unterstützen. Wir wissen eben nicht alles besser. Das gilt in der Entwicklungszusammenarbeit wie in der Sicherheitspolitik.

Eine Kultur des Dialogs bedeutet nicht, keine Erwartungen zu haben. Zuzuhören bedeutet nicht, nur schweigen zu müssen. Natürlich müssen sich die afrikanischen Regierungen selbst und verstärkt um Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit kümmern, natürlich muss man dort widersprechen, wo der Westen zum Sündenbock für die eigenen afrikanischen Verfehlungen gemacht wird, natürlich gilt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Doch erst wenn wir diese Erwartungen mit eigener Glaubwürdigkeit untermauern, und erst wenn Respekt und Augenhöhe keine Sprechblasen mehr sind, erst dann kann das Gegenüber den Anspruch an Selbstbestimmung auch überzeugend erfüllen. Gerade weil Europa die Partnerschaft mit Afrika nicht ernst genug nimmt und aus Arroganz oder Ignoranz seine Partner oft unterschätzt, machen wir es manchen Regierungen in Afrika allzu leicht, sich im bequemen Stuhl des passiven Opfers zurückzulehnen und mit der Überführung unserer Heuchelei ihre eigene zu verbergen.

Was ich uns also wünsche: Dass wir den Knick in der westlichen Optik erkennen. Uns verunsichern lassen. Den eigenen Maßstab nicht zum Maß aller Dinge machen. Afrika aus seinem eigenen Kontext heraus verstehen lernen. Die Irritation und Reibung, die dadurch entsteht, zur produktiven Kraft werden lassen. Zuhören, immer wieder zuhören. Und: uns Kleider anziehen.

Wenn wir uns das zu Herzen nehmen, dann kann Respekt entstehen, Respekt voreinander und Respekt vor der Vergangenheit; dann kann Vertrauen entstehen, Vertrauen ineinander und Vertrauen in die Zukunft.

Meine Damen und Herren,

Sie erinnern sich, ich wollte Wittgenstein widersprechen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen? Nein. Aus der Unmöglichkeit, über Afrika zu sprechen, darf nicht etwa Sprachlosigkeit erwachsen, sondern im Gegenteil Entschlossenheit, neue Wege des Dialogs und der Zusammenarbeit zu begehen. Was wir für die deutsch-afrikanischen Beziehungen brauchen, ist eine neue Bescheidenheit in unserer Haltung und eine neue Leidenschaft in unserem Handeln. Wir brauchen nichts anderes als einen Kulturwandel in unserer Afrikapolitik, der den historischen Umbrüchen Rechnung trägt, die Afrika gegenwärtig erlebt, und der endlich die globale Bedeutung dieses Kontinents ernst nimmt. Ein solcher Kulturwandel verlangt uns einiges ab: Selbstkritik, Differenzierung, Geduld, ein kleines bisschen Mut – und politischen Willen, den Wandel in der Haltung auch in die Umsetzung zu bringen.

Wittgenstein hat in sein Tagebuch geschrieben: „Man kann nicht wollen, ohne zu tun“.

Ich finde, da hat er Recht.