Die globale Partnerschaft mit Leben füllen

Flagship Forum des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit
Bonn, 12. Mai 2014



I.

Es gibt Einladungen, über die freut man sich als Redner ganz besonders – manchmal wegen des Themas, manchmal wegen des Ortes, manchmal wegen des Veranstalters. Ich freue mich heute über alle diese drei, weil es so etwas wie ein dreifaches Nach-Hause-Kommen ist. Die Veranstalter, BMZ und GIZ, habe ich während meiner Arbeit im High Level Panel schätzen gelernt und kann mich ja nun quasi unter Kollegen fühlen. Die Stadt Bonn und Umgebung war lange meine Heimat und hier durfte ich als Staatssekretär jenes Stück deutscher und europäischer Geschichte um 1990 miterleben und mitbewegen. Und das Thema meiner Rede, die globale Partnerschaft – nun, auch das fühlt sich an wie Nach-Hause-Kommen. Denn wenn ich darüber nachdenke, welches Motiv mich in meiner beruflichen Laufbahn immer wieder geleitet hat, sei es als Staatssekretär, als Chef des IWF oder als Bundespräsident, dann ist es das Ringen um eine fairen und vertrauensvollen Umgang zwischen den Völkern. Heute stehe ich vor Ihnen als einfacher Bürger, dem seine Arbeit in Deutschland und im Ausland eine klare Erkenntnis vermittelt hat: Die Schicksale der Staatengemeinschaft haben sich in einem solchen Maße und in einer solchen Geschwindigkeit miteinander verwoben – ökonomisch, ökologisch, sozial, und auch moralisch – dass wir dringend einen Paradigmenwechsel brauchen, der dieser Wirklichkeit endlich auch politisch Rechnung trägt. Die internationale Politik braucht einen neuen Geist des Miteinanders und ein neues Leitmotiv der Zusammenarbeit. Sie braucht den Geist und das Leitmotiv der Partnerschaft. Und ich bin davon überzeugt, dass dies nicht nur nötig, sondern auch möglich ist.

Vor fast einem Jahr habe ich in Berlin den Bericht des High Level Panels on the Post-2015 Development Agenda vorgestellt – er trägt die globale Partnerschaft im Titel; und vor wenigen Monaten habe ich in einer Rede an der Universität Tübingen meine Gedanken zu diesem neuen Leitmotiv der internationalen Politik etwas mehr ausbuchstabiert und mich mit den vier konzeptionellen Begriffen Souveränität, Legitimität, Interessen und Werte auseinandergesetzt, die diesem Leitmotiv zugrunde liegen (erlauben Sie mir den Hinweis, dass sich der Tübinger Redetext auch im Internet findet – heute werde ich mich deutlich kürzer fassen müssen). Nun ist seit diesen beiden Reden ja einiges passiert auf der internationalen Bühne. In Syrien erleben wir wieder einmal die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber einem Schlächter seines eigenen Volkes, und mitten in Europa, in der Ukraine, wird wieder gekämpft in einer Konfrontation, die vielen von uns absurd vorkommt und so manche Gewissheit bröckeln lässt. Und da kommt der Köhler und erzählt munter weiter etwas von globaler Partnerschaft? Klingt das im Mai 2014 nicht nur wie eine hohle Phrase oder bestenfalls wie eine naive Träumerei? Darf man in Zeiten, in denen internationales Recht so schamlos gebrochen wird, noch auf Gerechtigkeit unter den Völkern hoffen? Kann man in Zeiten des Wortbruchs und der Täuschung an einem Mehr an Vertrauen und Glaubwürdigkeit arbeiten? Ich glaube: man darf und kann nicht nur, man muss sogar. Die globale Partnerschaft und die Post-2015 Agenda sind in meinen Augen nicht naiver Idealismus, sondern wahre Realpolitik, weil wir anders unsere Probleme gar nicht lösen können. Wir brauchen globale Entwicklungsziele und eine neues Paradigma nicht einfach trotz, sondern wegen der gegenwärtigen Krise in der internationalen Politik. Nun bin ich weder so vermessen noch so doof mich hier hinzustellen und zu verkünden: „Die Post-2015 Agenda rettet die Ukraine“. Aber dennoch bin ich tief davon überzeugt, dass wir mit einem gelungenen Post-2015 Prozess im Rahmen der Vereinten Nationen zeigen können, dass Kooperation und nicht Konfrontation die Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist. Ein Rückfall in plumpe Machtpolitik produziert allenfalls kurzfristig vermeintliche Gewinner, auf lange Sicht werden wir dabei alle verlieren. Es ist diese Überzeugung, die mich heute vor Ihnen stehen lässt und mich sagen lässt: Der Anspruch an ein neues Leitmotiv der internationalen Politik, den unser High Level Panel mit seinem Bericht formuliert hat, ist aktueller und dringlicher denn je.

II.

Betrachten wir die Wirklichkeit am Anfang des 21. Jahrhundert jenseits aktueller Krisen: Innerhalb meines Lebens hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht, es gibt jetzt über 7,1 Milliarden Menschen auf der Welt. Bis 2050 werden es über 9 Milliarden Menschen sein. Und wir werden nicht nur immer mehr, wir werden auch immer älter: 1950, da war ich gerade in die Schule gekommen, hatten nur 1% der Weltbevölkerung eine Lebenserwartung von über 70 Jahren, heute sind es 57%, also über die Hälfte aller Menschen, die so alt werden. Diese Entwicklung ist Ausdruck einer unglaublichen wirtschaftlichen und sozialen Dynamik: 2 Milliarden Menschen rechnet man heute weltweit schon zur globalen Mittelschicht, und bis im Jahr 2030 werden voraussichtlich noch einmal 3 Milliarden Menschen diesen wirtschaftlichen Aufstieg schaffen. Das ökonomische Netz der Welt ist immer enger geknüpft und hat in den letzten Jahrzehnten den größten Wohlstandsschub in der Menschheitsgeschichte ermöglicht.

Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte. Insgesamt leben heute immer noch rund eine Milliarde Menschen in absoluter Armut, noch immer geht weltweit jeder achte Mensch hungrig zu Bett, noch immer ist fast jedes sechste Kind unterernährt. Die globale Schere zwischen den extrem Armen und den extrem Reichen klafft immer weiter auseinander. Und der Aufstieg der globalen Mittelschicht bringt den Planeten an den Rand des Kollapses, wenn er nach dem alten Wachstumsmuster verläuft. Um die wachsende Weltbevölkerung zu versorgen, werden bis 2030 30% mehr Energie, 40% mehr Wasser und 50% mehr Nahrungsmittel nötig sein.

Alles läuft auf die Frage hinaus: Von welcher Substanz soll sich eigentlich das Wachstum nähren, welches uns der Vision einer Welt des Wohlstands für alle näherbringt? Oder, noch zugespitzter: Wie schaffen wir es, die Armut zu beseitigen, ohne den Planeten zu überfordern?

Der Lebensstil der Moderne stößt an seine Grenzen. Würde man den heutigen Ressourcen- und Energieverbrauch von uns Europäern globalisieren, bräuchte man vier Planeten als Reserve. Schon heute führt der Kampf um die Ressourcen zu Instabilität und Konflikten. Und genau so, wie die Entscheidungen der USA oder Europas ökologische und soziale Auswirkungen auf den Rest der Welt haben, so werden die Entscheidungen Chinas, Indiens, oder Brasiliens in naher Zukunft immense Auswirkungen auf uns haben.

Die Weltbevölkerung ist also, so drückt das Jürgen Habermas aus, längst zu einer „unfreiwilligen Risikogemeinschaft“ verurteilt. Und bei allen ökonomischen, technologischen und ökologischen Verflechtungen ist offensichtlich, dass die politische Reaktion darauf hinterherhinkt, dass die Politik nicht nachkommt, diese globalisierte Welt zu managen und zu gestalten. In dieser Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten eine globale Agenda „for people and planet“, also für den Menschen und den Planeten zu entwickeln, das ist die Herkulesaufgabe des Post-2015 Prozesses. Die Post-2015 Agenda ist für diese Herausforderungen kein Allheilmittel, aber sie kann ein entscheidendes Instrument sein, um den Gezeitenwechsel auch politisch zu erfassen.

III .

Über diesen Gezeitenwechsel habe ich mir im vergangenen Jahr Gedanken gemacht, zusammen mit 26 anderen Persönlichkeiten aus der ganzen Welt. Wir alle waren vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, im August 2012 in eine Arbeitsgruppe berufen worden, dem sogenannten „High Level Panel on the Post-2015 Development Agenda“. Trotz manch unterschiedlicher Auffassung im Detail waren wir uns einig, dass eine Politik des „business as usual“ nicht ausreicht, sondern dass die gigantischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine tiefgreifende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft an allen Enden unseres Planeten erforderlich machen. Das heißt, dass die Post-2015 Agenda eine universelle Agenda sein muss, also eine, die Veränderungsbedarf für alle Staaten aufzeigt – für Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer zugleich.

Und wir haben uns gefragt: Brauchen wir nicht ein neues Paradigma für die internationale Politik, brauchen wir nicht ein Leitmotiv für die Post-2015 Agenda, das endlich der starken Interdependenz auf unserem Planeten Rechnung trägt? Interdependenz, das bedeutet, salopp gesagt: Die Menschheit sitzt in einem Boot. Die bedrohlichen Konflikte des 21. Jahrhunderts bestehen nicht zwischen „uns“ und „denen“, sondern zwischen uns und unseren Enkeln, zwischen kurzfristigen und langfristigen Interessen. Auf lange Sicht sind unsere Schicksale so sehr miteinander verknüpft, dass es eine immer stärkere Konvergenz der Interessen unterschiedlicher Länder gibt, je weiter man in die Zukunft zu blicken vermag. Kein Land, so reich und mächtig es auch sein mag, kann auf Dauer seinen Wohlstand erhalten, ohne die Perspektiven und das Wohlergehen der anderen Länder zu berücksichtigen.

Und so war unsere Antwort am Ende eindeutig und einmütig: Ja, wir brauchen einen Paradigmen-Wechsel in der internationalen Politik. Das heißt wir brauchen mehr als nur eine neue oder andere Liste von Entwicklungszielen. Das Panel war sich einig, dass die Post-2015 Agenda von einem neuen Geist der Solidarität, der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Nutzen und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht getragen sein muss. Dieser Geist muss sich auf einem gemeinsamen Verständnis des globalen Gemeinwohls und globaler Ethik entwickeln. Die politische Verwirklichung dieses Geistes nennen wir „globale Partnerschaft“. Sie beruht auf zwei Prinzipien: Erstens muss nationale Politik unter Berücksichtigung des globalen Gemeinwohls gestaltet werden – also das bekannte Motto „global denken, lokal handeln“. Es braucht aber auch, zweitens, die umgekehrte Richtung: Nationale Regierungen müssen multilaterale Lösungen für die vielen Probleme finden, die sie lokal betreffen, aber die nur international lösbar sind – also quasi „lokal denken, global handeln“. Diese beiden Prinzipien bilden den Faden, der sich durch alles politische Handeln im 21. Jahrhundert ziehen muss, eben als neues Leitmotiv der internationalen Politik, als globale Partnerschaft.

IV.

Was bedeutet all das aber für die Post-2015 Agenda, ganz konkret? Lassen Sie mich einige Beobachtungen zum aktuellen Prozess äußern und dabei abzugleichen versuchen, inwiefern das alles mit der vom High Level Panel formulierten Idee der globalen Partnerschaft zusammenpasst. Bitte sehen Sie mir nach, wenn ich dabei nicht die goldene Sandwich-Regel des Feedbacks anwende, nach der jedem Kritikpunkt ein Lob voraus- und hinterhergeschickt werden soll. Anstelle dessen möchte ich zunächst ein paar Punkte nennen, die mir Sorgenfalten bereiten, und dann berichten, was mir Hoffnung macht.

Die erste Sorgenfalte: Füllen wir das große Wort einer universellen Agenda wirklich bereits mit Leben? Wenn der Ausgangspunkt dieser neuen Agenda die Erkenntnis ist, dass wir uns von unserem derzeitigen nicht nachhaltigen Lebensstil verabschieden müssen, und dass es Veränderungsbedarf in allen Ecken des Planeten gibt – was bedeutet das dann für uns in Deutschland und Europa? Haben wir auf diese Frage eine Antwort – nach Möglichkeit, ohne gleich mit dem Allzweck-Argument „Energiewende“ zu kommen? Die Post-2015 Agenda ist kein entwicklungs- und außenpolitisches Programm, welches nur das BMZ und das Auswärtige Amt tangiert. Wenn man den Anspruch der Universalität ernst nimmt, dann hat diese Agenda wichtige und grundsätzliche Auswirkungen für alle Politikbereiche, dann ist sie eine Querschnittsaufgabe. Ich sehe allerdings noch nicht, dass über die entwicklungspolitische Community hinaus eine breite Auseinandersetzung damit stattfindet, was eine universelle Agenda wirklich für die deutsche Politik bedeutet. Und ich sehe, mit Verlaub, auch noch nicht wirklich, wo und wie sich etwa die verschiedenen Ressorts jenseits der Ankündigungen einbringen wollen, welche Verpflichtungen man über das Bestehende hinaus einzugehen bereit ist, und wie die verschiedenen Ministerien über die jeweiligen Nickeligkeiten und Profilierungsübungen hinaus an einer kohärenten, gemeinsamen Transformationspolitik arbeiten wollen. All das wäre aber Voraussetzung dafür, um international mit Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit für eine partnerschaftliche, universelle Agenda zu werben. Und wenn wir das bestehende Maß an Doppelmoral und den damit verbundenen Vertrauensverlust in der internationalen Politik betrachten, dann können wir uns nicht mehr leisten, am Ende als Kaiser ohne Kleider dazustehen.

Ich habe mich daher sehr gefreut, dass der Bericht des High Level Panels auch ein eigenes Ziel zu den globalen entwicklungsfördernden Rahmenbedingungen und zur Entwicklungsfinanzierung vorgeschlagen hat (Goal 12: „Create a global enabling environment and catalyse long-term finance“). Es ist doch längst klar, dass wir endlich an die systemischen Ursachen von Armut und Umweltzerstörung heran müssen, dass es zum Beispiel mehr auf Handel als auf Hilfe ankommt, und dennoch kommen wir bei diesen sogenannten enablern kaum weiter. Wenn etwa Afrika jährlich Nahrungsmittel für 35 Milliarden Dollar importiert, oder 50 Milliarden Dollar Kapital jährlich aus Afrika illegal abfließen, oder der menschengemachte Klimawandel vor allem auch Afrika schädigt, dann brauchen wir doch nicht ernsthaft über Armutsreduzierung reden, wenn wir nicht auch intensiv an einer Neuordnung der internationalen Handelspolitik, der Agrarpolitik, der Reform des internationalen Finanzsystems inklusive der Steuerpolitik und an einem global wirksamen Regime zur Reduzierung von CO2-Emissionen arbeiten. Nach meiner Einschätzung befindet sich die Arbeit auf allen diesen Baustellen in einem unbefriedigenden, zum Teil besorgniserregenden Zustand. Das beschädigt ganz massiv die Glaubwürdigkeit gerade der reichen Nationen in diesem Prozess.

Daran schließt sich die zweite Sorgenfalte an, und Achtung, jetzt mag es für den ein oder anderen etwas technisch werden. Wie ich höre, ist derzeit der große Stolperstein in den internationalen Diskussionen das Prinzip der „gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortung“, auf Englisch „common but differentiated responsibilities“, oder kurz CBDR. Ich habe schon bei der Vorstellung des Panel-Berichts im vergangenen Jahr keinen Hehl daraus gemacht, dass ich das Prinzip CBDR für einen fairen Interessensausgleich im gesamten Post- 2015-Prozess für durchaus hilfreich halte, auch über die Klima- und Umweltpolitik hinaus. Leider ist CBDR zum Finger geworden, mit dem jeder auf den anderen zeigt. CBDR wird munter von verschiedenen Seiten instrumentalisiert – meist dahingehend, die eigene Verantwortung und damit den Veränderungsbedarf bei sich selbst kleinzuschreiben. Wenn nicht so viel auf dem Spiel stünde, würde ich mich dazu hinreißen lassen, diese Reflexe als albern zu bezeichnen. Nun bin ich weder Diplomat noch Experte und bin nicht mit allen hochkomplizierten Details der Entwicklung und Verwicklung dieses Begriffes vertraut. Ich kann demnach auch keine taktischen Ratschläge geben – ob es nun besser ist, den Begriff beizubehalten, aber etwas anderes damit zu meinen; oder zwar CBDR zu meinen, es aber anders zu benennen, oder was auch immer. Aber ich kann nur eindringlich dafür werben, sich früh und kreativ um Lösungen für diesen vermeintlichen gordischen Knoten zu bemühen. Klar ist, dass sich kein Land aus der Verantwortung stehlen darf, weder aus der historischen noch der jetzigen.

Etwas Ermutigendes könnte ich der Diskussion um CBDR durchaus abgewinnen: Wo viel gestritten wird, da geht es um etwas. Wo echte Veränderung stattfindet, da gibt es Widerstände – Veränderung, mit der alle sofort einverstanden sind, ändert meist nicht viel. Insofern zeigt uns die schwierige Kontroverse um CBDR vielleicht, dass eine wirklich transformative Post-2015 Agenda tatsächlich Althergebrachtes in Frage stellen würde, Machtverhältnisse einordnen würde, eingefahrene Pfade verlassen würde. Der Streit darüber erinnert alle daran, dass die Post-2015 Agenda eine zutiefst politische Agenda ist und kein Ringelpietz mit Anfassen einiger Technokraten und Weltverbesserer. Die Fragen, die eine transformative Post-2015 Agenda im Geiste einer echten globalen Partnerschaft aufwirft, rühren tief an unseren Selbstverständnissen, Wohlstandsmodellen und Gesellschaftsordnungen. Werden wir in der bisherigen öffentlichen Debatte dieser Tiefe gerecht? Denn ja, es wäre so leicht, diesen ganzen Prozess abzutun als routiniertes Ringen um eine Liste technokratischer Ziele. Ja, es wäre so einfach, etwa bezüglich CBDR eine Diskussion zu simulieren, die sich doch nur auf den bequemen Rückzug in altbekannte Schützengräben beschränkt. Ja, es wäre naheliegend, diese Agenda im geübten Klein-Klein der Arbeitsebenen und Verhandlungsdelegationen ihrer schmerzlosen und konsequenzbefreiten Vollendung zuzuführen.

Aber das kann es doch nicht sein.

Daher beobachte ich, drittens, mit Sorge, dass noch immer viel zu wenig politisches Kapital in den Post-2015 Prozess fließt. Manchmal erscheint es mir, als hätte uns dieser Prozess schon ernüchtert und ermüdet, noch bevor er so richtig an Fahrt aufgenommen hat. Wenn wir es ernst meinen mit der Transformation, wenn wir es ernst meinen mit der dringenden Verbesserung globaler Rahmenbedingungen, dann wird das gegenwärtige Level an Leidenschaft nicht wirklich ausreichen. Damit meine ich sowohl unsere gesellschaftliche Debatte darüber als auch die politische Aufmerksamkeit, die diesem Thema zukommt. Wo ist die Vision, wo die Kraft, wo der Mut? Was sind unsere Prioritäten, als Deutschland, als Europa, als Vereinte Nationen? Man darf gespannt sein. Ich hoffe jedenfalls sehr, dass sich Deutschland mit Ehrgeiz hineinkniet in die Arbeit an einem wegweisenden Beschluss in der Generalversammlung der Vereinten Nationen nächstes Jahr, der einen echten Aufbruch in eine Welt des Friedens und der Entwicklung für alle bedeutet.

V.

Aber ich bin ja heute nicht nach Bonn gekommen, um den Post-2015 Prozess schlecht zu reden, ganz im Gegenteil. Ich habe eingangs gesagt, dass ich einen neuen Geist der Partnerschaft nicht nur für nötig, sondern auch für möglich halte. Lassen Sie mich deshalb drei Dinge erwähnen, die mich hoffnungsvoll stimmen.

Erstens: Die breite Kritik an der Hinterzimmer-Geburt der MDGs ist auf offene Ohren gestoßen und wir erleben derzeit einen historisch einmaligen Konsultations- und Diskussionsprozess. Klar, das ist mühsam, und so manch elaborierte Stakeholderbeteiligungskonferenz macht schon müde, noch bevor man ihren Titel zu Ende ausgesprochen hat (Ich hoffe übrigens, dass es der heutigen Veranstaltung nicht so ergeht). Und ja, bei manchem Dialogforum hat man das Gefühl, im Fegefeuer der Eitelkeiten gelandet zu sein, denn natürlich haben auch zivilgesellschaftliche Akteure ihre Interessen und Pfründe und Dünkel, und sind schon gar nicht gegen das engstirnige Silodenken immun, das sie bei Regierungen gerne anprangern. Und dennoch ist diese große globale Debatte, die gerade begonnen hat, unglaublich wertvoll. Wir erleben eine Zivilgesellschaft, die in der Regel professionell, entschieden und weltweit gut vernetzt für Ihre Sache kämpft. Ihre Ideen, ihre Möglichkeiten, Menschen zu inspirieren und zu mobilisieren, und ihr Beitrag zu diesem wichtigen Bewusstsein, dass wir in einer Welt leben, sind unverzichtbar für eine neue Politik; und beim Stichwort Inspiration darf ich an dieser Stelle gerne die wundervolle Tawakkol Karman erwähnen: Sie hat unsere Diskussionen im Panel unglaublich bereichert. Und ich bin traurig, dass es um die Menschenrechte und um funktionierende Institutionen gerade auch im Jemen und im arabischen Raum weiterhin nicht so gut steht. Tawakkol hat uns im Panel vermittelt, wie wichtig eine globale Agenda ist, um der Zivilgesellschaft einen Referenzrahmen an die Hand zu geben, an dem sie ihre Regierungen messen kann. Dieser konstruktive Druck kann heilsam sein.

Wir erleben außerdem, dass sich der Privatsektor in bisher nicht gekanntem Ausmaß in die Diskussion einmischt. Eine Transformation der globalen Ökonomie ohne die Beteiligung der Unternehmen, oder eine Bekämpfung der Armut ohne die Arbeit-Geber im Wortsinne wäre auch überhaupt nicht möglich. Der Erfolg der neuen Entwicklungsziele steht und fällt meines Erachtens mit der Frage, ob es gelingen wird, auf breiter Basis Arbeit und Perspektiven für die vielen Hunderte Millionen von jungen Menschen zu schaffen. Deshalb ist es richtig und wichtig, lieber Peter Bakker, dass Sie heute nach Bonn gekommen sind. Und ich nehme mit Erleichterung wahr, dass es einen wohltuend differenzierten Blick auf die Rolle der Privatwirtschaft gibt, und sie weder verherrlicht noch verteufelt wird, wie das teilweise durchaus üblich war.

Wenn wir uns die Akteurslandschaft dieses großen Diskussionsprozesses ansehen, dann gibt es übrigens noch einen weiteren Hoffnungsfaktor. Die Staaten des Südens bringen sich mit Sachlichkeit, Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein ein, auch das war ja nicht immer so. Und es gibt durchaus Anzeichen, dass das althergebrachte Blockdenken, das manchmal wie aus der Zeit gefallen scheint, an Anziehungskraft verliert. Ich erinnere nur an die Gründung der g7+, eine erfrischende Allianz, mit der sich die fragilen Staaten besser organisieren, oder auch daran, dass die afrikanischen Staaten sich erst neulich auf eine ausführliche Position zur Post-2015 Agenda geeinigt haben, um eben nicht in die Falle zu tappen, am Ende nur noch der G77-Position hinterhertrotten zu können. Als konstruktiv habe ich gerade in den Panel-Diskussionen auch die Rolle der südamerikanischen Staaten wahrgenommen, und deshalb ist es eine Ehre, dass Sie, Frau Botschafterin Espinosa, liebe Patricia, heute mit uns sprechen. Ich hoffe sehr, dass Europa in kluger, kreativer und konstruktiver Weise mit diesen neuen Möglichkeiten umgeht, aus den albernen Blockkonfrontationen herauszukommen, und seinen Teil zu einem an der Sache orientierten Prozess beiträgt.

Neben dem breiten Diskussionsprozess um die neuen Ziele auf globaler Ebene sehe ich, zweitens, auch hier vor der Haustür Anlass zur Zuversicht, und ich bitte die ausländischen Gäste um Nachsicht, dass ich nun etwas ganz spezifisch zu Deutschland sage, und die deutschen Gäste bitte ich, mir jetzt nicht billige Schmeichelei zu unterstellen: Ich glaube, dass wir mit dem BMZ ein ganz wunderbares kleines Ministerium haben, das für dieses Thema einen großen Teil der Verantwortung trägt, mit vielen jungen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem einzigartigen Blick für globale Zusammenhänge. Ich hoffe, lieber Herr Staatssekretär, dass das BMZ die Traute hat, als Gestalter für globale Rahmenbedingungen zu wirken – und zwar nicht als Underdog, der vor allem sein Revier markieren will, wie es in der Vergangenheit für manche bisweilen wirkte, sondern als inspirierende und integrierende Kraft für eine kohärente Transformationspolitik Deutschlands. Die Kompetenz der GIZ ist dabei ein unschätzbares Pfund, liebe Frau Gönner. Sie arbeiten nicht nur weltweit an Transformationsprozessen mit, sondern stellen sich gerade auch in Deutschland als Beratungsunternehmen für den gesellschaftlichen Wandel hin zu Nachhaltigkeit auf – da wird man bei einer universellen Post-2015 Agenda hoffentlich noch einiges von Ihnen hören.

Die von der Bundesregierung im Februar vorlegte Position zu Post-2015 ist meines Erachtens ein guter Start; ich habe mich zum Beispiel gefreut, dass das Thema der nachhaltigen Produktions- und Konsummuster einen breiten Raum einnimmt, und mit dem Prozess zur Erarbeitung einer „Zukunftscharta“, den Minister Müller begonnen hat, werden wir hoffentlich ein breites Gespräch darüber hinbekommen. Und ich habe mir sagen lassen, dass seit einer Woche nun auch die Sondereinheit zu Post-2015 im BMZ seine Arbeit aufgenommen hat. Das sind gute Zeichen dafür, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht werden will. Ich kann nur hoffen, dass das deutsche Engagement für eine neue globale Partnerschaft nicht als reine Pflichtübung verstanden wird, sondern dass sich das BMZ und die Bundesregierung insgesamt gerade in der Kür kraftvoll und mutig einbringen werden.

Am meisten Mut, meine Damen und Herren – und damit bin ich beim dritten und letzten Punkt meiner Hoffnungszeichen angelangt – macht mir aber, dass ich ein großes Bewusstsein auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger wahrnehme, dass es so wie bisher irgendwie nicht mehr weiter gehen kann. Denn es ist ja so: die globale Partnerschaft ist natürlich zunächst ein Anspruch an die Staaten und Regierungen, die ihre Politik endlich den neuen Realitäten der interdependenten Welt anpassen müssen. Von dieser Verantwortung kann sie keiner befreien. Aber dennoch muss die globale Partnerschaft etwas sein, was auch und gerade von unten wächst. Als Elitenprojekt wird die Post-2015 Agenda nicht funktionieren. Politische Veränderungen und das ethische Verhalten des Einzelnen tragen vor allem dann Früchte, wenn sie ineinandergreifen und sich ergänzen. Die globale Transformation wird ja ganz konkrete Auswirkungen auf jede und jeden von uns haben und muss daher auch von uns allen mitgetragen werden. Und da darf die Politik nach meinem Eindruck den Bürgerinnen und Bürgern durchaus mehr Einsicht zutrauen und offen und ehrlich die Veränderungsbedarfe benennen. Bei den verschiedenen Vorträgen und Diskussionsrunden jedenfalls, die ich in den vergangenen Monaten zu diesem Thema geführt habe, kam immer wieder die Frage, gerade auch von jungen Leuten: Was kann ich dazu beitragen? Viele Menschen fangen heute schon an mit einem Leben, das die Achtsamkeit sucht gegenüber Umwelt und globaler Gerechtigkeit, und warten nicht auf die große Politik. Sie zeigen heute schon, dass es nicht um Zwang oder stupiden Verzicht geht, sondern darum, anders zu konsumieren. Das gelingt zum Beispiel, wenn wir uns die technischen Fortschritte in der Energie- und Ressourceneffizienz auch im Alltag zunutze machen, oder wenn wir Wohlstand und Lebensqualität nicht nur über ein materielles „immer mehr“ definieren. Viele Menschen entdecken, dass sie Lebensqualität gewinnen können, wenn sie den Mut haben, ihren bisherigen Lebensstil in Frage zu stellen. Überprüfen wir doch alle unverkrampft die ein oder andere Gewohnheit im Lichte ihrer globalen Auswirkungen. Wussten Sie, dass man 2% der CO2-Emissionen einsparen könnte, wenn alle nur noch LED-Glühbirnen benutzen würden? Oder dass der globale Fleischkonsum für mehr Treibhausgasemissionen verantwortlich ist als der weltweite Verkehr? „Lasst uns menschenwürdig leben, dann ist auch unsere Zeit gut. Wie wir sind, so ist die Zeit“ schrieb Augustinus, und es gibt mir unglaublich viel Mut und Hoffnung, dass viele Menschen entschlossen sind, auch im ganz persönlichen Umfeld zu einer menschenwürdigen Gegenwart und Zukunft beizutragen.

VI.

Jetzt, in den kommenden Monaten und im nächsten Jahr, wird es darum gehen, all diese Hoffnungsfäden zusammenzuknüpfen (und ein paar Sorgenknoten zu lösen). Die Post-2015 Agenda muss bekannter werden, muss mehr politische Aufmerksamkeit bekommen, muss in das Zentrum unserer gesellschaftlichen Auseinandersetzung rücken. Es steht viel auf dem Spiel. Nun liegt mir fern, für das Jahr 2015 einen globalen Showdown herbeizureden, der das Schicksal der Menschheit entscheidet. Unser Ehrgeiz darf nicht zur Hybris werden, und Dringlichkeit nicht zur Hysterie. Die Post-2015 Agenda wird kein Welterlösungsprogramm sein. In einer solchen medialen Erregungslogik wäre die Enttäuschung ja auch schon einprogrammiert, denn natürlich wird es am Ende Kompromisse geben – ja, auch faule. Aber es muss uns dennoch gelingen, einen Sinn dafür zu bekommen und zu vermitteln, welch große Chance in diesem Prozess liegt, und zwar sowohl für die Menschen in Deutschland und Europa als auch für die ganze Welt. Nehmen wir diese Chance ernst. Wenn es im Rahmen dieses Prozesses gelingt, neues Vertrauen ineinander zu wecken, dem gemeinsamen Streben neue Glaubwürdigkeit zu geben und ein neues Bewusstsein für die globale Perspektive zu nähren, dann wäre – auch jenseits der Erreichung spezifischer Ziele – schon viel gewonnen.