Die deutsche Wirtschaft und die neue große Transformation

Econsense – Forum Nachhaltigkeit der Deutschen Wirtschaft
Berlin, 5. Mai 2015



I.

Ich freue mich, hier zu sein. Ja, das wirkt wie eine Standardbegrüßung eines Redners, und doch bin ich heute ganz besonders gespannt. Denn Spannung entsteht aus Reibung, und Reibungsfläche bietet eine Rede zur globalen Nachhaltigkeitsdebatte vor einem Wirtschaftspublikum allemal. In dieser Debatte wirken die Positionen oft unversöhnlich: Manche sind ja fest davon überzeugt, dass der Kapitalismus die Wurzel allen Übels ist: Profitgier, Raubtierkapitalismus, totalitärer Markt, race to the bottom; Sie kennen die Stichworte. Die Wirtschaft selbst hingegen hält sich natürlich nicht für das Problem, sondern für die Lösung – auch hier kennen Sie die Slogans: green economy, win-win-situation, corporate social responsibility usw.

Ich werde versuchen, mich von den Parolen fernzuhalten und auch von den pauschalen Antworten, denn eines stelle ich immer wieder fest: je tiefer man in die Materie hineintaucht, auf desto mehr Dilemmata und Widersprüche stößt man, und für jede Antwort ergeben sich zwei neue Fragen, und die Antworten auf diese Fragen wiederum fallen völlig unterschiedlich aus, je nachdem, ob ich sie aus der Perspektive eines deutschen Wirtschaftsführers, einer chinesischen Politikerin oder eines malawischen Bauern beantworten möchte. Vielleicht gibt es auf globale Fragen nur Fragmente von Antworten.

Die große globale Frage ist natürlich, wie wir eine Welt schaffen können, in der alle Menschen in Wohlstand und Würde leben können, nicht nur eine privilegierte Milliarde aus den Industrieländern. Daran schließt sich dann die Frage an, wie wir eine solche Welt schaffen können, ohne die natürlichen Grundlagen des Planeten zu überfordern.

Diese beiden Fragen müssen wir stellen, wenn wir die konkreteren Fragen dieser heutigen Veranstaltung beantworten wollen: Welchen Beitrag können Unternehmen zu einer nachhaltigen Welt leisten? Und weshalb hat die Wirtschaft, gerade auch die deutsche, überhaupt ein Interesse daran?

Es ist der Luxus eines Key Note Speakers, dass er auch mal etwas weiter ausholen darf, und genau diesen Luxus muss ich mir nun einmal nehmen. Ich verspreche Ihnen aber, dass ich die konkreten Fragen nicht vergesse.

 

II.

Weit ausholen, das heißt: mindestens bis ins Jahr 1904. Da wurden meine Eltern geboren. Im gleichen Jahr, so sagt uns Wikipedia, wird der Kleiderbügel erfunden, Herr Rolls und Herr Royce treffen sich zum ersten Mal, die New Yorker U-Bahn wird eröffnet, und im Deutschen Kaiserreich verbietet ein Gesetz die Kinderarbeit für unter 12-Jährige. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt zu Beginn jenes noch jungen Jahrhunderts in Deutschland bei 44,2 Jahren, die Weltbevölkerung beträgt 1,7 Milliarden Menschen.

Das ist die Welt, in die meine Eltern hineingeboren wurden. Sie wirkt wie eine längst vergangene Zeit, und doch erkennen wir in ihr schon die Konturen unserer Gegenwart, mit den Verheißungen von Wohlstand, Mobilität und sozialem Fortschritt. Und die vergangenen 111 Jahre, die Lebenszeit zweier Generationen, haben viele dieser Hoffnungen eingelöst, durch Kriege und Katastrophen hindurch, haben die Lebenserwartung der Deutschen fast verdoppelt und die Weltbevölkerung mehr als vervierfacht.

Es wäre wohl nicht vermessen, diese Entwicklung vor allem der marktwirtschaftlich organisierten Moderne zuzuschreiben. Sie hat eine ungeheure Innovationskraft entfaltet; eine schöpferische Rastlosigkeit, die den gigantischsten Wohlstandsschub in der Geschichte der Menschheit auslöste.

Aber wir wissen heute auch, was der Preis dieser Entwicklung war und ist. Wir wissen heute, dass unser modernes Wirtschaftssystem einen gnadenlosen Raubbau an der Natur betrieben hat und betreibt. Wir wissen, dass es kaum Gnade kennt gegenüber jenen, die nicht mithalten können: Im Tschad beträgt die Lebenserwartung heute, 111 Jahre nach der Geburt meiner Eltern, 50,7 Jahre.

Diese Ambivalenz der kapitalistischen Moderne, ihre Wucht im Kreativen und im Destruktiven, hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einer enormen Spannung geführt, die, entschuldigen Sie das pathetische Bild, die Welt zu zerreißen droht.

Die Gleichzeitigkeit von Kreation und Destruktion ist der Kern des Dilemmas, vor der die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht. Wir stehen nämlich, gleichzeitig, vor zwei gigantischen Herausforderungen:

Auf der einen Seite ist das die extreme Armut, in der über eine Milliarde Menschen immer noch leben, also jene Armut, die dazu führt, dass ein Kind, das heute im Tschad geboren wird, mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:6 seinen fünften Geburtstag nicht erleben wird.

Auf der anderen Seite steht die ungeheure Ausbeutung der Ressourcen dieses Planeten. Exemplarisch dafür steht das Problem der globalen Erwärmung, welche schon heute die natürlichen Lebensgrundlagen von Menschen weltweit bedroht.

Beide Herausforderungen sind vor dem Hintergrund einer rapide ansteigenden Weltbevölkerung zu betrachten. Bis im Jahr 2050 erwarten die Demographen um die 10 Milliarden Menschen. 10 Milliarden, die essen wollen, lernen wollen, arbeiten wollen, mitreden wollen. 10 Milliarden, die in Würde und Wohlstand leben wollen.

Der Maßstab für diesen Wunsch ist für die meisten Menschen dieser Welt wohl unser westliches Wohlstandsniveau. Wie aber können wir den materiellen Wohlstand erreichen, der zum Beispiel auch ein Leben in Würde für die Kinder im Tschad sichert, ohne unseren Planeten zu überfordern? Die Übertragung des westlichen Pro-Kopf-Ressourcenverbrauchs auf die ganze Welt wäre physisch überhaupt nicht möglich, da bräuchten wir 3-4 Planeten in Reserve. Viele Ökosysteme stehen angesichts einer brutalen Ressourcenübernutzung schon jetzt vor dem Kollaps. Wenn die Begrenzung der Erderwärmung auf 2 Grad Celsius gelingen soll, dürfen bis 2050 nur noch etwa 750 Milliarden Tonnen CO2 aus fossilen Quellen in die Atmosphäre gelangen. Aber diese Grenze wäre selbst dann schon 2040 überschritten, wenn die Menschheit auch nur weiterhin so viel CO2 emittiert wie heute. Wir müssten die Emissionen also rasant reduzieren, statt sie wie bisher weiter zu erhöhen.

Alles läuft auf die Frage hinaus: Von welcher Substanz soll sich eigentlich das Wachstum nähren, welches uns der Vision einer Welt des Wohlstands für alle näherbringt?

 

III.

Wir sind uns hoffentlich einig, dass die Antwort “Dann bleiben die anderen halt arm, Hauptsache, uns geht es gut“ keine Option ist. Zumindest wäre sie ethisch so absurd, dass wir dann auch alle anderen Werte, auf die unsere Gesellschaft fußt, in die Tonne kloppen könnten.

Aber nicht nur aus moralischer Sicht muss die Option „Gleichgültigkeit“ ausgeschlossen sein. Denn wir müssen noch eine andere Schlussfolgerung ziehen aus dem Vergleich der Welt meiner Eltern mit der Welt meiner Kinder und Enkel. Was ist das Merkmal, das dieses 21. Jahrhundert so sehr unterscheidet von allem, was die Menschheit bisher kannte? „Das Internet!“ würde mir meine Enkelin wohl mit großer Selbstverständlichkeit antworten, und damit käme sie der Sache schon recht nahe, jedenfalls wenn wir „Internet“ einmal wörtlich nehmen: Vernetzung. Ich glaube, dass es eine politische, wirtschaftliche und ökologische Realität gibt, der wir nicht mehr entkommen können, nämlich die unwiderrufliche Interdependenz allen Geschehens auf diesem Planeten. Diese Interdependenz, also gegenseitige Abhängigkeit, bekommen wir zu spüren bei der globalen Erwärmung, bei Ebola, bei Finanzkrisen, beim Terrorismus, bei der aktuellen Flüchtlingskrise. All das sind Dinge, die keine Ländergrenzen kennen, die sich national nicht lösen lassen. Damit ist auch die Bekämpfung der extremen Armut oder die Frage, welchen Entwicklungspfad die Inder oder die Chinesen nehmen in unserem ureigenen, direkten Interesse. Jürgen Habermas hat die Welt in diesem Sinne einmal als „unfreiwillige Risikogemeinschaft“ bezeichnet. Ich sage, etwas platter: Wir sitzen alle in einem Boot.

Genau so wie unser Handeln Auswirkungen auf die anderen hat, hat das Handeln der anderen Auswirkungen auf uns. Eine Banalität, vielleicht – klar hängt irgendwie alles mit allem zusammen–, aber können wir von unserer Politik, von unserer Wirtschaft wirklich behaupten, sie hätte diese Realität der globalen Interdependenz schon in ausreichendem Maß zum Ausgangspunkt, zur rahmengebenden Qualität ihrer Entscheidungsprozesse gemacht?

Was daraus folgt, ist doch: Kein Land der Welt, so reich und mächtig es auch sein mag, kann seinen Wohlstand auf Dauer erhalten, ohne die Perspektiven der anderen Länder zu berücksichtigen.

Ein konkretes Beispiel für solche Zusammenhänge und gegenseitige Abhängigkeiten ist das geplante transatlantische Freihandelsabkommen. Ich bin wahrlich kein grundsätzlicher Gegner von TTIP. Ich hielte es aber für ein historisches Versäumnis mit einem solchen Abkommen nicht explizit auch das Ziel zu verbinden, für die Entwicklungsländer bessere Handelsbedingungen zu schaffen. Das muss zumindest für Europa eine der zwingenden Antworten auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer sein, diesem Zwischenraum zwischen Afrika und Europa. Tatsächlich werfen aber ernstzunehmende Studien die Frage auf, ob TTIP nicht sogar Handelsverschlechterungen bewirken könnte – z.B. im Hinblick auf bestehende Handelspräferenzen, oder auf die Chancen der Afrikaner, eine eigene arbeitsplatzschaffende Industrialisierung mit höheren Wertschöpfungsketten aufzubauen. Hier brauchen wir dringend Klärung, sonst geht der Schuss langfristig nach hinten los…

Die Logik der Interdependenz gilt nicht nur für Staaten. Kein Unternehmen kann langfristig Erfolg haben in einer Gesellschaft, die scheitert. Das gilt gerade auch für die deutsche Wirtschaft, die von ihrer internationalen Verflechtung profitiert wie kaum eine andere. Sie ist auf der Gewinnerseite der globalen Interdependenz – noch. Die deutsche Wirtschaft kann sich politischen Provinzialismus oder strategische Kleingeistigkeit deshalb nicht leisten.

 

IV.

Meine Damen und Herren,

an dieser Stelle wäre es ein leichtes, aufzuzählen, was die deutsche Wirtschaft schon tut, um ihrer Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit der Welt nachzukommen. Darüber wird auf dieser Veranstaltung noch zu sprechen sein, und deshalb verzichte ich an dieser Stelle auf das verdiente Lob, auch wenn ich Ihnen gern berichten darf, dass wo immer ich in der Welt unterwegs bin, die deutsche Wirtschaft meist einen hervorragenden Ruf genießt, gerade auch weil sie eben nicht nur verbrannte Erde hinterlässt. Legen Sie mir das Folgende also bitte nicht als mangelnde Wertschätzung aus für das, was schon geleistet wird.

Ich bin aber der Meinung, dass wir sehr viel tiefer graben müssen.

Denn all das sanfte Gegensteuern, das wir im Zuge der gesellschaftlichen Debatte um Nachhaltigkeit beobachten können – da wird hier ein Nachhaltigkeitsbeauftragter berufen, dort ein Umweltmanagementsystem eingeführt, hier eine Fairtrade-Produktlinie geschaffen, dort ein wenig CO2 eingespart – all diese Schritte ändern ja nichts an der grundlegenden, naturwissenschaftlichen Tatsache, dass das Entwicklungsmodell, auf dem der Reichtum in den Industrieländern basiert, aus globaler und langfristiger Sicht nicht tragfähig ist. Wir brauchen also ein sehr viel grundlegenderes Nachdenken und Umdenken.

Wir brauchen eine neue große Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft.

Der Begriff „große Transformation“ mag etwas irreführend sein; er hört sich ein bisschen nach globalem Masterplan an, den es natürlich nicht geben kann; und er verschleiert, dass es sich eigentlich um unzählige Transformationen handelt, um viele Veränderungen in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft, die sich in der langen Frist zu einem großen Wandlungsprozess fügen. In Ermangelung einer Alternative benutze ich ihn dennoch. Damit er kein leerer Slogan bleibt, lassen Sie mich vier Thesen aufstellen, die für mich einige Eckpunkte einer großen Transformation skizzieren.

 

1. Wir müssen unseren Wachstumsbegriff neu denken.

Als ordoliberal ausgebildetem Ökonomen tue ich mich schwer mit der derzeit – von den USA bis China – vorherrschenden Wachstumsratenpolitik. Da wird Konsum quasi zur Pflicht, damit die Wachstumsrate hoch bleibt. Ist das der Sinn von Wirtschaften? Ein exponentielles Wachstum kann es in einer physisch endlichen Welt jedenfalls nicht geben. Und als Politiker sorge ich mich ob der Abhängigkeit unserer Demokratien von Wachstumsversprechen, die auf billigem fossilen Ressourcenverbrauch, Verschuldung und einem sich weiter aufblähenden Finanzsektor basieren. Klar brauchen wir Wachstum, aber wie, wo, und zu welchem bzw. zu wessen Zweck? Und müssten die eigentlichen Messzahlen für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht längst die Steigerung von Produktivität und Ressourceneffizienz sein? Müssten wir in die Definition unseres Wohlstands nicht längst auch kulturelle und soziale Reichtümer wie Zufriedenheit, Beziehungen usw. einbeziehen?

Wir brauchen einen Wandel hin zu einem ehrlichen, verantwortlichen Wachstum, also eines, das wir uns mit den unserer Generation zur Verfügung stehenden finanziellen und natürlichen Ressourcen wirklich leisten können. Ein solches ehrliches Wachstum könnte dann auch ökologischen und ökonomischen Raum schaffen für das notwendige materielle Wachstum im globalen Süden, denn natürlich werden dort noch viel mehr Schulen und Krankenhäuser und Straßen und Kraftwerke und Industriebetriebe gebraucht, um die Menschen aus der Armut zu holen.

Daran sieht man auch, dass eine ehrliche Auseinandersetzung mit unserem Wachstumsbegriff nicht zu Heulen und Zähneklappern in der Wirtschaft führen muss. In Afrika zum Beispiel entwickelt sich trotz aller Irrungen und Wirrungen ein neuer globaler Wachstumspol mit bald bis zu 2 Milliarden Menschen. Die rechtzeitige Teilhabe am Wachstum dieser Region sichert auch Arbeitsplätze und Einkommen bei uns. Ich freue mich, dass mehr und mehr deutsche Firmen die Chancen in Afrika erkennen.

 

2. Wir brauchen Preise, die die Wahrheit sagen.

Jeder Marktwirtschaftler weiß um die zentrale Bedeutung des Preises für das Funktionieren eines Marktes. Und hier haben wir ein grundsätzliches Problem: Die Preise sagen momentan nicht die Wahrheit über Knappheiten und ökologische und soziale Kosten. Solange Externalitäten wie Umweltverschmutzung nicht eingepreist werden, bleibt der Markt verzerrt und führt zwangsläufig zu einem Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen. Bei keinem Beispiel wird dies so deutlich wie beim CO2, das im Wesentlichen immer noch frank und frei in die Luft gepustet wird, obwohl durch den Klimawandel der Allgemeinheit immense Kosten aufgebürdet werden. Ich habe mich gefreut, als ich vor 3 Wochen einen offenen Brief von 43 CEOs international operierender Unternehmen lesen konnte. Darin steht (und Herr Appel kann das jetzt kontrollieren, er hat den Brief nämlich mitunterzeichnet):

  • dass dem Privatsektor eine führende Verantwortung bei der Transformation zu einer „low-carbon economy“ zukommt,
  • dass eine effektive Klimapolitik auch eine implizite oder explizite Bepreisung von CO2 mit einschließt,
  • und dass die Transformation zu einer dekarbonisierten Wirtschaft eine Chance für Wachstum und Arbeitsplätze in Industrie- und Entwicklungsländern ist.

Herr Appel, danke für Ihr Engagement und Ihren Mut. Ich hoffe, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei der Pariser Klimakonferenz im Dezember davon anstecken lassen und damit auch das Projekt der Sustainable Development Goals voranbringen (auf das ich gleich noch zu sprechen komme). Die wirkungsvollste Maßnahme dürfte eine internationale Steuer auf CO2-Emissionen sein; und bei dem Wort „Steuer“ muss keinem angst und bange werden. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass mit den richtigen Anreizen und der konsequenten Berücksichtigung der Kostenwahrheit die Marktwirtschaft ihre unglaubliche Innovationskraft unter Beweis stellen wird. Die deutsche Wirtschaft sollte diese Entwicklung lieber früher als später mit eigenen Ideen unterfüttern.

„Lieber früher als später“ – da bin ich bei meiner dritten These, was Kern einer großen Transformation sein müsste:

 

3. Wir müssen der langfristigen Perspektive mehr Raum geben.

Ich glaube, dass die großen Konflikte unserer Zeit gar nicht so sehr zwischen verschiedenen Staaten oder Branchen oder Gesellschaftsgruppen stattfinden, sondern zwischen uns und unseren Enkeln, zwischen kurz- und langfristigen Interessen. Die Widersprüche, die sich aus der unterschiedlichen zeitlichen Perspektive ergeben, lassen sich teilweise nicht auflösen, als Beispiel nenne ich die aktuelle Diskussion um die Braunkohle.

Und doch lassen uns die großen Menschheitsaufgaben, die ich eingangs skizziert habe, keine Wahl, als so manchen „short-termism“ in Politik und Wirtschaft zu überdenken. Ich greife für Deutschland mal eine Branche heraus, die strukturbestimmend ist für die deutsche Wirtschaft: die Automobilindustrie. Deren Profitabilität hängt nicht zuletzt von hohen Verkaufszahlen in China ab. Gerade dort ist aber längst eine Diskussion im Gange über Dauerstaus und gesundheitsgefährdenden Smog und die Folgen des Klimawandels. Ist es undenkbar, dass die chinesische Regierung hier eines Tages massiv in den Markt eingreift? Anfänge gibt es ja schon. Ich würde jedenfalls nicht dagegen wetten, und würde ein solches Vorgehen auch nicht sofort mit einem Rückfall in Maos Zeiten gleichsetzen. Tatsächlich ist es doch eine mittlerweile eher unumstrittene Erkenntnis, dass vor allem zwei Entwicklungen die Autohersteller weltweit mehr und mehr unter Veränderungsdruck setzen: zum einen die fortschreitende Urbanisierung, welche kompaktere und mit Massenverkehrsmittel besser vernetzte Städte verlangt, und zum anderen die zunehmende gesellschaftliche Sensibilisierung, dass der Klimawandel „kein Witz“ ist, wie es der kalifornische Gouverneur neulich ausdrückte. Was ist die politische Antwort auf diese langfristige Perspektive? Der technologische Wandel zu einer dekarbonisierten Wirtschaft findet jedenfalls nicht von selbst statt, sondern es braucht verlässliche und langfristige Politiksignale. Und was ist die Antwort der Wirtschaft? Gelassenheit wäre angebracht, wenn die deutschen Autobauer unzweifelhaft die Führungsposition bei der Entwicklung alternativer Antriebe (Elektro, Brennstoffzelle) innehätten. Haben Sie das?

Ich weiß, es ist leicht, zum langfristigen Denken aufzurufen, wenn man selbst keine kurzfristigen Entscheidungen mehr treffen muss. Und man muss natürlich die politische Wahrheit aussprechen: Die große Transformation hin zu einer nachhaltigen Welt wird es nicht zum Nulltarif geben. Die Geschäftsmodelle ganzer Branchen werden in Frage gestellt. Die große Transformation wird Gewinner und Verlierer produzieren. Aber Veränderung, die keinem weh tut, ist meist keine echte Veränderung. Und Privilegien abgeben zu müssen, und sei es das Privileg, kostenlos CO2 emittieren zu können, ist immer schwer.

Ich bin aber davon überzeugt: wer die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkennt, wer nicht erst auf den Mainstream wartet, bevor er sich bewegt, der hat gute Chancen, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Auf welcher Seite steht die deutsche Wirtschaft?

Meine Damen und Herren, ich habe noch einige Minuten Redezeit, und in denen möchte ich mich kurz auch der großen Politik zuwenden. Meine vierte These zu der neuen großen Transformation lautet:

 

4. Wir brauchen ein neues Paradigma der globalen Partnerschaft in der internationalen Politik.

Ich sprach eingangs von der Interdependenz allen Geschehens auf diesem Planeten und der Notwendigkeit, die Armutsfrage des Südens und die Nachhaltigkeitsfrage des Nordens gemeinsam zu betrachten. Dieser Herkulesaufgabe, vielleicht auch: diese Quadratur des Kreises, haben sich die Vereinten Nationen mit den Zielen für Nachhaltige Entwicklung vorgenommen, die nach einem mehrjährigen Prozess im Herbst dieses Jahres in der Generalversammlung verabschiedet werden sollen.

Nachdem die berühmten Millennium-Entwicklungsziele in diesem Jahr 2015 auslaufen – mit gemischter Bilanz – soll es nun einen neuen globalen Zielkatalog geben, allerdings deutlich ambitionierter. Die Ziele sollen nun nicht mehr nur für die Entwicklungsländer gelten, sondern universelle Geltung haben, also Veränderungsbedarf auch in den Industrie- und Schwellenländern benennen. Das heißt: Ohne, dass sich bei uns etwas ändert, also bei unserer Art, zu produzieren und zu konsumieren, wird man auf Dauer auch die Armut in den Entwicklungsländern nicht bekämpfen und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht schützen können. Interdependenz eben.

Es fällt nicht schwer, die UN-Entwicklungsziele zu kritisieren oder zu belächeln: „Wann hat ein UN-Beschluss je die Welt verändert?“ könnte man fragen, oder auch: wenn sich 193 Staaten auf gemeinsame Ziele für die Zukunft der Welt einigen müssen, kann da mehr herauskommen als ein kleinster gemeinsamer Nenner des Nichtstuns; kommt es da nicht zwangsläufig zu einer Liste widersprüchlicher Ziele, die sich gegenseitig neutralisieren?

Und wenn man sich den aktuellen Verhandlungsstand ansieht, dann kommt man tatsächlich ins Grübeln: da werden 17 große Ziele mit 169 Unterzielen aufgezählt, die bis 2030 erreicht werden sollen – da ist das Ende der extremen Armut darunter, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Bildungsstandards, aber auch die Verdopplung der globalen Energieeffizienz, der Ausbau von Infrastruktur, der Schutz der Meere, der Kampf gegen die Korruption… Für sich genommen ist da jedes einzelne Ziel sicher gut und richtig, aber in der Summe fragt man sich schon, wo da eigentlich die Priorisierung ist, aus der ja die nötige Kraft zur Veränderung oft erst entsteht.

Aber jenseits dieser wichtigen und richtigen Zweifel, ob am Ende wirklich das bestmögliche Verhandlungsergebnis herauskommt, bin ich doch überzeugt:

Die Diskussion über Ziele der Weltgemeinschaft für Nachhaltige Entwicklung könnte eine Zeitenwende im globalen politischen Diskurs begründen. Sie kann eine Chance sein, dem Narrativ der Krisen und der Konfrontation eine neue Erzählung der Kooperation, der Solidarität und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht zum gemeinsamen Nutzen entgegenzustellen, ein neues Paradigma der globalen Partnerschaft. Sie kann damit Orientierung geben in dieser von Angst vor dem Zerfall geprägten Zeit. Die Ziele für Nachhaltige Entwicklung könnten der Beginn einer wertvollen Konsensfindung sein zwischen allen Staaten, den reichen und den armen, dass es so wie bisher nicht mehr funktionieren kann; ein wertvoller Konsens darüber, wie sich die Weltgemeinschaft ihre gemeinsame Zukunft vorstellt. Sie könnten die große Transformation skizzieren, die wir anpacken müssen, wenn die Menschheit überleben will; eine Transformation, die alle in die Pflicht nimmt, Nord und Süd und Ost und West.

In der Pflicht sehe ich dabei auch die deutsche Wirtschaft. Ich hielte es für einen strategischen Fehler, diesen Prozess zu unterschätzen. Ich halte es für eine große strategische Chance, diesen Prozess zu begleiten und sich zu fragen: „Was muss mein Unternehmen ändern, damit die Welt eine neue große Transformation hinbekommt, hin zu Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle?“

Was muss sich ändern?

Ich bin gespannt und freue mich auf Ihre Antworten.