Braucht die Weltwirtschaft eine neue Vision?

Vortrag anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen
Tübingen, 4. Mai 2017



I.

Wie immer bin ich gerne hier. Und wie immer, wenn ich in Tübingen spreche, klopft mein Herz ein wenig höher als bei sonstigen Redeauftritten, denn natürlich ist nach all den vielen Jahren noch immer eine große Portion Ehrfurcht vor meiner Alma Mater vorhanden: Hier habe ich wie viele von Ihnen geschwitzt über so manch harter Klausur und geflucht über manch strengen Professor; hier habe ich 1968 die Studentenproteste verfolgt mit der ungeduldigen Distanz eines Arbeitersohns, der vor allem schnell fertig werden wollte mit dem Studium, weil er es sich selbst finanzieren musste; hier habe ich mich während meiner Dissertation in vielen Nächten ins Rechenzentrum schleppen müssen, weil nur dann der heiß begehrte Rechner frei war, meine Lochkarten zu lesen.

Ich empfinde daher eine ganz ehrliche und unprotokollarische Freude und auch ein bisschen Stolz, wenn ich Ihnen – nein: uns – gratuliere zum 200ten Jubiläum der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Nun sitzt keiner hier im Saal, der sich den Erfolg von 200 Jahren ans Revers heften könnte, aber dennoch möchte ich Danke sagen – Danke all jenen, die im Bewusstsein der stolzen und reichen Tradition dieser Fakultät die Lehre und Wissenschaft hier mitgeprägt haben und mitprägen – den Mitgliedern der Leitungsgremien, den Professoren, Mitarbeitern und Studierenden. Es gehört zu den großen Schätzen des menschlichen Daseins, dass wir uns eingebettet wissen in historische Zusammenhänge, die über unser eigenes Leben hinausweisen, und solch große Jubiläen wie dieses 200jährige können uns Dankbarkeit lehren für das, was vorausgehende Generationen geleistet haben, und sie erinnern uns gleichzeitig an unsere Verpflichtung, nicht nur für uns selbst zu wirken, sondern auch für jene, die nach uns kommen.

Das Jahr 1817 ist lang her, und so erfüllt es mich immer wieder mit Respekt, mich daran zu erinnern, welche unserer heutigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Grundlagen schon damals vorgedacht waren von klugen, hartnäckigen und mutigen Menschen, die nur ein Bruchteil unseres heutigen Wissens zur Verfügung hatten. 1817, da hatte Kant schon über die Vernunft nachgedacht und den ewigen Frieden, da hatte Adam Smith schon eine Theorie der ethischen Gefühle vorgelegt und den Wohlstand der Nationen erklärt, und genau in jenem Jahr 1817, in dem in Tübingen die „Staatswirtschaftliche Fakultät“ ihre Türen öffnete, argumentierte ein gewisser David Ricardo in überzeugender Weise, warum alle Volkswirtschaften ihre komparativen Kostenvorteile für internationale Arbeitsteilung und für Handel miteinander nutzen sollten.

200 Jahre später haben sich viele Hoffnungen erfüllt, und gleichzeitig würde sich so mancher Vordenker der letzten Jahrhunderte die Augen reiben, wenn er sähe, wie heute die Prinzipien von Logik und Vernunft und möglicherweise auch die ethischen Gefühle mit alternativen Fakten bekämpft werden; und wie sich 200 Jahre nach Ricardo in stolzen Demokratien, die durch Freihandel reich geworden sind, Wahlen gewinnen lassen mit dem Ruf nach Abschottung und Rückzug.

Wir leben in einer unruhigen, seltsamen Zeit, die vielleicht eines Tages tatsächlich als Zeitenwende beschrieben werden wird. Es ist eine Zeit, die an den Widersprüchen, welche die Moderne selbst geschaffen hat, zu zerbrechen scheint – eine Zeit, die von ihrer eigenen Komplexität überfordert ist. Jedenfalls wirken auf mich die beunruhigenden Erfolge der Nationalisten in vielen Ländern nicht wie Ausreißer launisch gewordener Wählerinnen und Wähler, sondern wie Symptome einer tieferen Orientierungslosigkeit in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Wissen wir noch, wo wir hinwollen? Haben wir noch Vertrauen in die Zukunft? Und wer genau ist eigentlich „wir“? Die Verunsicherung zeigt sich vor allem besonders stark in den Debatten um die Globalisierung, um das Verhältnis von Nation und Welt. Die Sehnsucht nach klaren, einfachen Antworten – die Sehnsucht nach Begrenzung in einer entgrenzten Welt – siegt dabei oft über die ambivalente und komplexe Logik von miteinander verflochtenen globalen Prozessen.

Ich möchte heute mit Ihnen diesen Ambivalenzen und Komplexitäten nachspüren, und möchte damit den Versuch wagen, einige Wegmarken im Dickicht der Verunsicherungsdebatten zu beleuchten. Ich habe das alles für mich in die Frage gepackt, die Sie im Titel der Vortragsankündigung lesen konnten: Braucht die Weltwirtschaft eine neue Vision?

Als ich beim Schreiben dieses Manuskripts ins Stocken kam, habe ich für einen kurzen Moment überlegt, ob ich an dieser Stelle die Frage „Braucht die Weltwirtschaft eine neue Vision?“ nicht einfach beantworten könnte mit einem freundlichen „Nein Danke, braucht sie nicht“, um mich dann von Ihnen zu verabschieden – aber meine Schwabenehre sagt mir, dass ich mir den Wein und die Brezel beim Empfang nachher erst noch verdienen muss, und so will ich dann doch etwas ausführlicher antworten.

II.

Zunächst müssen wir einer anderen Frage nachgehen, welche die weltweite Öffentlichkeit in den letzten Monaten und Jahren sehr kontrovers diskutiert hat: was hat die enorm gewachsene wirtschaftliche Verflechtung der letzten Jahrzehnte – nennen wir sie der Einfachheit halber Globalisierung – eigentlich gebracht? Ich möchte darauf eine einfache und eine kompliziertere Antwort geben.

Die einfache Antwort lautet – und die ist gut belegbar: die Globalisierung hat, unterm Strich, der Welt einen nie zuvor dagewesenen materiellen Wohlstand gebracht. Allein in China haben sich weit über eine halbe Milliarde Menschen aus der extremen Armut befreit. In Deutschland wäre weder das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Deutsche Einheit möglich gewesen ohne die enge Einbindung in internationale Wirtschaft- und Handelsströme. Und auch jenseits rein ökonomischer Betrachtungen hat die Globalisierung der Menschheit enorme Fortschritte beschert: auch Wissenschaft, Kultur und soziales Miteinander wurden durch den Austausch von Ideen und Gütern – und auch durch Migration – bereichert. Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton zeigt in seinem Werk „The Great Escape“ anschaulich, dass der globalisierungsbegünstigte Austausch von medizinischen Erkenntnissen und Medikamenten entscheidend dazu beitrug, dass die globale Lebenserwartung innerhalb der letzten 50 Jahre mehr anstieg als im gesamten vorherigen Jahrtausend.

Soweit die einfache Antwort.

Die komplizierte Antwort auf die Frage, was die Globalisierung gebracht hat, ist – nun, kompliziert. Denn natürlich haben nicht alle gleichmäßig davon profitiert. Der ehemalige Weltbank-Ökonom Branko Milanovic hilft uns zu verstehen, wer die Gewinner und Verlierer der Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte sind. Erstens hat sich durch das große Wachstum in China und anderen asiatischen Ländern eine neue globale Mittelschicht entwickelt. Demgegenüber stehen aber, zweitens, die Mittelschichten der westlichen Industrienationen, die kaum profitiert haben – die unteren 50% in diesen Ländern hatten kaum oder nur geringe Einkommensgewinne und sind deshalb die relativen Verlierer. Die großen Gewinner sind, drittens, die Superreichen – Milanovic nennt sie „globale Plutokraten“, die sowohl relativ als auch absolut immens hinzubekommen haben und so reich sind, dass es unsere Vorstellungskraft übersteigt. Viertens ließe sich hinzufügen, dass es in Afrika zwar durchaus bescheidene relative Erfolge in der Armutsbekämpfung gegeben hat, diese aber durch das Bevölkerungswachstum vielerorts gleich wieder aufgefressen werden. Insgesamt lässt sich also argumentieren, dass die globale Ungleichheit zwar abgenommen hat – vor allem im Vergleich des Westens mit Asien – dass aber die Ungleichheit innerhalb vieler Ländern, nicht zuletzt auch den Industrieländern, gestiegen ist. Nicht alles, aber vieles davon ist der Globalisierung zuzuschreiben – denn natürlich bedeutet eine wachsende internationale Arbeitsteilung immer strukturellen Wandel, und der hat innerstaatliche Verteilungswirkungen und kann zu Arbeitsplatzverlusten führen. So haben Daron Acemoglu und andere berechnet, dass die USA zwischen 1999 und 2011 mindestens zwei Millionen Arbeitsplätze an die Volksrepublik China verloren haben. Freilich sollte diesem Befund dann sogleich die Berechnung zur Seite gestellt werden, was der Handel mit China und die Globalisierung in diesem Zeitraum allen US-Amerikanern an Wohlstandsgewinn beschert haben – eine Studie kommt da für die Zeit von 1990 bis 2014 auf einen Globalisierungsgewinn von durchschnittlich 11.700 Euro pro Kopf.

Die komplizierte Seite der Globalisierungsbilanz steckt aber nicht nur im Sozialen, sondern natürlich vor allem auch im Ökologischen. Der Klimawandel – leider – Fakt. Er ist das deutlichste Beispiel, dass die breite Expansion des Kapitalismus, der enorme Kosten einfach externalisiert, zu Problemen führt. 15 der 16 heißesten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen lagen in diesem Jahrhundert. In vielen Ökosystemen nähern wir uns gefährlichen Kipp-Punkten, die, einmal überschritten, zu abrupten und unumkehrbaren Veränderungen im Erdsystem führen können. Unser Ökosystem ist eben nicht wie die Zimmerpflanze im Wohnzimmer, von der man sich einfach eine neue kaufen kann, wenn sie eingeht. Das macht die Frage des heutigen Abends so dringlich, denn der Klimawandel verändert den Handlungsrahmen für Politik in einschneidender Weise. „Zeit kaufen“ als Mittel der Politik wird immer weniger möglich. Mit dem Klima kann man um keinen Aufschub verhandeln.

Soweit also die komplizierte Antwort. Die Bilanz der globalisierten Moderne lässt ahnen: es ist die Gleichzeitigkeit von Kreation und Destruktion, die unsere Gegenwart so schwer verständlich macht, die Fülle der Widersprüche, die Ambivalenz der Lösungen, die in anderen Bereichen nur neue Probleme schaffen. Und damit will ich nach dem Blick auf die Vergangenheit einen Blick auf die Zukunft werfen, auf drei große Herausforderungen, mit denen die Weltwirtschaft fertig werden muss – Herausforderungen, die sie teilweise selbst erst geschaffen hat. Und deshalb steht von vornherein die Frage im Raum: kann diese Weltwirtschaft gleichzeitig auch die Lösung sein?

III.

Drei große Trends will ich besprechen.

Erstens: das globale Bevölkerungswachstum. In unserem Lieblingsreferenzjahr des heutigen Abends, also 1817, lag die Zahl der Weltbevölkerung bei knapp über 1 Milliarde, und es sollte über hundert Jahre dauern, bis sie 1923 die 2 Milliarden-Grenze überschritt. Seitdem geht es immer schneller voran: 1999 wurden die 6 Milliarden geknackt, 2012 die 7 Milliarden. Im Jahre 2050 werden wohl fast 10 Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben, also zehnmal mehr als im Gründungsjahr dieser Fakultät. Das ist übrigens zunächst kein Grund an sich zur Klage, sondern vor allem auch ein Ergebnis der erfreulicherweise steigenden Lebenserwartung und niedrigerer Kindersterblichkeit. All diese Menschen wollen aber ernährt werden, wollen Arbeit und Einkommen, brauchen Schulen und Krankenhäuser und Wohnraum und Wasser und Energie. All dies wird nur mit massivem Wirtschaftswachstum in den heute armen Ländern zu leisten sein, denn gerade dort wird die Bevölkerung wachsen – alleine auf dem afrikanischen Kontinent ist bis 2050 eine Verdopplung auf zweieinhalb Milliarden Menschen zu erwarten. Das Problem dabei ist: die einzige Lösung, die der Weltwirtschaft für den Umgang mit der Bevölkerungsentwicklung zur Verfügung steht, nämlich das Wachstum, schafft uns auf einer anderen Ebene gigantische Probleme. Damit bin ich bei:

Zweitens: den planetaren Grenzen. Es ist ein eigentlich simpler, natürlicher Gedanke, der aber in unseren Konsumgesellschaften, in denen wir alles jederzeit in fast beliebiger Menge kaufen können, kaum mehr in unserem persönlichen Erfahrungshorizont liegt: Ressourcen sind endlich. Wir können nicht unbegrenzt konsumieren, was der Planet den Menschen zur Verfügung stellt. Dennoch verbrauchen wir Ressourcen aller Art weit über der natürlichen Reproduktionsrate. Der Preismechanismus, der, wenn man der ökonomischen Theorie folgt, ja eigentlich für eine optimale Steuerung von Angebot und Nachfrage sorgen soll, ist dabei völlig dysfunktional – denn die zukünftigen Generationen können ihre Nachfrage nach Ressourcen überhaupt nicht signalisieren; ihre Kaufkraft ist gleich null und damit auch ihre Möglichkeit, den Preis zu beeinflussen. Bei den fossilen Energien kommt die Schwierigkeit hinzu, dass nicht die Ressourcenknappheit das Problem ist („peak oil“ ist im Grunde eine falsche Furcht), sondern dass wir die vorhandenen fossilen Ressourcen erst gar nicht vollständig nutzen dürfen, wenn wir den CO2-Ausstoß begrenzen und damit den katastrophalsten Klimawandel verhindern wollen. Nun haben wir aber ein Weltwirtschaftssystem, welches das langfristig begrenzte Angebot natürlicher Ressourcen nicht wirklich einpreist und damit quasi von der Illusion planetarer Grenzenlosigkeit lebt. Wo also soll das Wachstum herkommen, das wir für die wachsende Weltbevölkerung brauchen, von welcher ökologischen Substanz soll sich dieses Wachstum nähren, wenn die Menschheit doch schon jetzt über ihre Verhältnisse lebt? Das ist die vielleicht wichtigste Frage dieses Jahrhunderts, auf die ich später näher eingehen werde.

Beide Großprobleme, das Bevölkerungswachstum und die planetaren Grenzen, wären schon Herausforderung genug. Es kommt aber noch ein dritter Trend hinzu, und auch er ist, wie so vieles heute Abend, ambivalent.

Drittens also: der technische Fortschritt, oder konkret: die Digitalisierung. An dieser Stelle muss ich mein persönliches kleines Tübinger WiWi-Jubiläum erwähnen – vor 40 Jahren, also 1977, wurde ich hier promoviert. Meine Dissertation trug den Titel „Die Freisetzung von Arbeit durch technischen Fortschritt“. Damals kam ich zum Schluss, dass technischer Fortschritt nur unter der Bedingung stetigen Wachstums nicht zu Arbeitslosigkeit führt. Ich stellte Wachstum als Problemlöser nicht in Frage – heute sehe ich das sehr viel differenzierter, ich komme wie gesagt später darauf zurück. Damals hatte ich auch noch keine wirkliche Vorstellung, welch grundlegende Umwälzungen der technische Fortschritt durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz anstößt, nicht zuletzt in der Arbeitswelt: Roboter, Computer und Automaten erledigen heute und in der Zukunft nicht einfach nur physische Routinearbeiten, sondern jegliche Art vorhersehbarer Arbeit – von der automatischen Analyse medizinischer Daten, zum Beispiel, bis hin sogar zu chirurgische Eingriffe durch Roboter. Werden nach den Industriearbeitern nun sogar die Ärzte von der Konkurrenz intelligenter Roboter bedroht? Der Wettbewerb Mensch-Maschine wird jedenfalls immer härter. Eine Studie von Acemoglu und Restrepo, die erst vor wenigen Wochen erschienen ist, hat das nun zum ersten Mal empirisch untersucht und bestätigt. Und die Hoffnung, dass alle Menschen, deren Arbeiten besser und schneller von Robotern und Rechnern erledigt werden können, als Programmierer neue Arbeit finden, ist leider nicht mehr als Pfeifen im Walde. John Maynard Keynes Vorhersage von 1930 einer neuen „Krankheit der technologischen Arbeitslosigkeit“ könnte nun wahr werden. Natürlich hat die Digitalisierung noch weit mehr Effekte als den arbeitsmarktpolitischen, und sie ist ohne Zweifel auch eine große Chance für die Menschheit. Aber wir müssen erkennen, dass sie wahrscheinlich nicht dazu beitragen wird, die wachsende Weltbevölkerung mit ausreichend Arbeitsplätzen zu versorgen, im Gegenteil. Und auch die Hoffnung, dass uns der technische Fortschritt aus der Ressourcenknappheit herauserfinden könnte, quasi wie sich Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpfe zog, sie ist bisher durch nichts begründet. Zwar werden immer effizientere Produkte auf den Markt gebracht, die weniger Ressourcen pro Einheit konsumieren, aber es werden insgesamt eben auch immer mehr Einheiten konsumiert.

Man kann sich diese drei großen Trends, also das Bevölkerungswachstum, die Ressourcenknappheit und die Digitalisierung, wie große Züge vorstellen, die aufeinander zufahren, und eben nicht zwei, sondern drei davon. Das mag dramatisch klingen, aber erst wenn wir alle drei dieser gigantischen Zukunftsherausforderungen gemeinsam betrachten, erst wenn wir begreifen, wie wenig uns Lösungen auf nur einer Seite des Dreiecks weiterbringen, weil sie auf einer anderen Seite des Dreiecks die Probleme nur verstärken – erst dann werden wir uns bewusst, vor welcher Mammutaufgabe die Menschheit steht. Und dann wird auch klar, dass unsere derzeitige Weltwirtschaft keine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen gibt. Und ich glaube, dass viele Menschen auf der ganzen Welt das spüren. Sie verlieren den Glauben, dass unsere derzeitige Art des Wirtschaftens auf Dauer noch gut geht, dass unser jetziges System die große universale Menschheitshoffnung erfüllt, die alle Eltern der Erde vereint: dass es den Kindern einst besser gehen möge als mir selbst. Die Verheißung des 20. Jahrhunderts jedenfalls, die des immerwährenden Fortschritts, der alle Boote hebt, sie ist verblasst.

Die Weltwirtschaft braucht also, meine Damen und Herren, eine neue Vision.

IV.

Es bleibt richtig: Jedes Land ist seines eigenen Glückes Schmied, hat seine eigene Identität, Kultur und muss seine eigenen Zukunftsvorstellungen entwickeln. Und dennoch kann eine Vision für die Weltwirtschaft nur eine globale sein. Bevor sie mir nun einen Zirkelschluss vorwerfen, denn natürlich ist eine Vision für die Weltwirtschaft per definitionem global: es ist ja eben leider keine Selbstverständlichkeit mehr, einen Zukunftsblick mit dem Anspruch zu haben, die gesamte Welt ins Auge zu fassen und nicht nur einen Ausschnitt von ihr. Doch nationale Visionen à la „America First“, ja, selbst regionale Visionen, die den globalen Kontext und die Perspektiven anderer Länder ausblenden, greifen ganz offensichtlich zu kurz, wenn man sich das Problemdreieck vor Augen führt, das ich eben geschildert habe. Ich weiß, es gibt eine Debatte darüber, ob die Verflechtung der Weltwirtschaft nicht in Teilen auch wieder zurückdrehbar ist – ja, natürlich ist sie das, wenn auch nur zu immensen volkswirtschaftlichen Kosten. Aber dennoch sind und bleiben wir voneinander abhängig, dennoch sitzt die Menschheit in einem Boot, dennoch leben wir in einem Zeitalter unwiderruflicher Interdependenz, denn auch Donald Trump wird keine Mauer gegen den Klimawandel bauen können und auch Vladimir Putin oder Recip Erdogan werden mit dem autoritärsten Staat keine Pandemien verhindern können, und auch wir Europäer brauchen doch nicht zu glauben, dass wir eine Zukunft Europas denken können, ohne auch an die Zukunft unseres Nachbarn Afrikas zu denken, auf dem, ich wiederhole mich, in 30 Jahren zweieinhalb Milliarden Menschen leben werden, zwei Drittel davon junge Menschen unter 25. Im 21. Jahrhundert sitzt die Menschheit unwiderruflich in einem Boot. Deshalb brauchen wir politische Antworten, die sich zu einem neuen Paradigma der globalen Partnerschaft, zu einer Kultur der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Rechenschaftspflicht zusammenfügen. Deshalb sollten wir keinen rein nationalen Antworten trauen, die doch nur in sich zusammenfallen, sobald man eine globale Perspektive einnimmt. Und deshalb muss jede Vision für die Weltwirtschaft eine globale sein, also eine universale Antwort auf die Frage geben, worauf die Menschen hoffen dürfen.

Und diese Vision, sie liegt auf der Hand: wir brauchen eine Weltwirtschaft, die allen Menschen auf der Erde ein Leben in Würde ermöglicht – und zwar ohne unseren Planeten zu zerstören.

Als ich das letzte Mal in dieser Aula einen Vortrag gehalten habe, im Dezember 2013, da hatte ich das so ähnlich formuliert, und damals habe ich über einen Prozess berichtet, den ich mit einigen anderen Persönlichkeiten aus der ganzen Welt in einem sogenannten High-Level-Panel vorbereitete: die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Im Jahr 2015 wurde diese Agenda dann von den 194 Mitgliedstaaten der VN, also praktisch allen Staaten der Erde, einstimmig verabschiedet – keine Selbstverständlichkeit in diesen spannungsgeladenen Zeiten. Kern der Agenda sind die Nachhaltigen Entwicklungsziele (auf englisch: Sustainable Development Goals, SDGs), ein umfassendes Bündel von 17 Zielen, zu denen sich alle Staaten verpflichten – Ziele, die die soziale, ökologische und ökonomische Entwicklung betreffen. Und im Gegensatz zu den vorhergehenden Millenniums-Entwicklungszielen sind die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030, die SDGs, kein Reformprogramm für Entwicklungsländer, sondern eine Transformationsagenda für alle Staaten. Gemeinsam mit dem Pariser Klimavertrag, der ebenfalls 2015 von allen Staaten der Erde vereinbart wurde, formulieren die Nachhaltigen Entwicklungsziele eine mutige Vision: Wir können die erste Generation sein, die die extreme Armut ausrottet, und die letzte Generation, die vom Klimawandel bedroht ist. Diese Vision besagt, dass es sehr wohl möglich ist, mit Bevölkerungswachstum, Ressourcenknappheit und technologischem Fortschritt so umzugehen, dass alle besser dastehen.

Das ist aber nur möglich, wenn wir nicht so weitermachen wie bisher. Wir brauchen eine neue Große Transformation unserer Wirtschaften und Gesellschaften – vergleichbar in der Dimension mit der Transformation der mittelalterlichen Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Und das heißt: Wir brauchen eine Weltwirtschaft, die niemanden zurücklässt, und die von einer Dekarbonisierungs- und Effizienzrevolution grundlegend erneuert wird. Das verlangt vor allem von den Industrieländern Führung durch gutes Beispiel. Hier als erstes müssen sich die Produktions- und Konsummuster ändern, die Art der Energieerzeugung, der Landwirtschaft und der Mobilität. Hier als erstes muss es eine Bereitschaft geben, den armen Ländern auch durch eine neue internationale Handels- und Steuerpolitik bessere Rahmenbedingungen zu geben. Auf einige zentrale Baustellen der großen Transformation komme ich gleich noch zu sprechen.

Zunächst will ich aber meine Vision für die Weltwirtschaft an einer Stelle noch konkretisieren. Die Vision lautet ja, allen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Und damit wird sich die Weltwirtschaft vor allem auch an der Zukunft des afrikanischen Kontinents messen lassen müssen. Denn dort ist die Frage nach Perspektiven für die Menschen, insbesondere für die rasant wachsende Jugendbevölkerung, am dringendsten. 18 Millionen Jobs, so berechnete es der IWF, müssten in Afrika jährlich bis zum Jahr 2035 geschaffen werden, um die wachsende Jugendbevölkerung auf dem Arbeitsmarkt zu absorbieren. 18 Millionen Jobs jedes Jahr, das ist eine historisch noch nie dagewesene Aufgabe! Und dennoch bekomme ich bei vielen Diskussionen um Zustand und Zukunft der Weltwirtschaft nicht das Gefühl, dass die Bewältigung dieser Aufgabe als wirklich globale Herausforderung gesehen wird, oder dass die afrikanische Jobs-Agenda überhaupt hoch auf irgendeiner Prioritätenliste steht. Als es zum Beispiel hoch her ging um die Vor- und Nachteile von TTIP, da hat man wenig gehört darüber, was ein transatlantisches Freihandelsabkommen eigentlich für die afrikanischen Chancen bedeutet, sich in globale Wertschöpfungsketten einzuklinken. Dabei müsste genau das eine zentrale Frage für jeden sein, der über die Weltwirtschaft der Zukunft nachdenkt. Anstelle dessen delegiert man diese Fragen an ein paar tapfere Entwicklungspolitiker und NGOs! Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass sich die Verhandlungen zu den Europäischen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (European Partnership Agreements) mit den afrikanischen Regionen schon im Ausgangspunkt viel stärker der Unterstützung für den Aufbau diversifizierter und arbeitsplatzschaffender Ökonomien in Afrika gewidmet hätten. Man braucht doch angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise niemandem mehr zu erklären, dass es in unserem direkten europäischen und deutschen Eigeninteresse ist, dass in Afrika massiv Arbeitsplätze entstehen. Wir sollten nicht zuletzt deshalb den afrikanischen Teil unserer weltwirtschaftlichen Vision so ausbuchstabieren: Arbeiten wir gemeinsam mit den Afrikanern daran, diesen Kontinent zu einem neuen globalen Wachstumspol zu machen! Die immensen natürlichen Ressourcen Afrikas, seine noch weiter wachsende junge Bevölkerung und sein Unternehmergeist stehen allemal für diese Vision. Warum kommt die Transformation der afrikanischen Volkswirtschaften dennoch nur so langsam voran? Ich glaube, der Hauptgrund dafür ist fehlender politischer Wille – und zwar sowohl in den afrikanischen Hauptstädten als auch in den Industrieländern. Afrikas Aufstieg wird aber nur möglich werden, wenn beides zusammenkommt, die Eigenverantwortung der Afrikaner und die unterstützenden globalen Rahmenbedingungen (im VN-Sprech heißt das „global enabling environment“).

Und wer es wirklich ernst meint, meine Damen und Herren, der sollte zum Beispiel auch lesen, was der Reutlinger Handwerkersohn Friedrich List geschrieben hat, der, wie sie wissen, 1817 mit dem Freiherrn von Wangenheim die brillante Idee zur Gründung dieser Fakultät hatte und hier Professor wurde. List hat begründet, warum und unter welchen Umständen ein zeitlich begrenzter „Erziehungszoll“ für das Aufwachsen von neuen Wirtschaftsstrukturen Sinn machen kann. Es waren die heutigen Industrieländer, die genau mit solchen Maßnahmen groß geworden sind! Wer glaubt denn ernsthaft, dass nun die Afrikaner, in einer heute noch viel härteren Konkurrenzsituation, es schaffen können, wettbewerbsfähige eigene Industrie aufzubauen, ohne ihre infant industries für eine gewisse Zeit vor dem globalen Wettbewerb zu schützen?

Klar ist, dass der dringend notwendige wirtschaftliche Strukturwandel in Afrika nur dann Erfolg haben kann, wenn es auch in den Industriestaaten Strukturwandel gibt. Denn natürlich wird das Aufwachsen neuer, arbeitsplatzschaffender Wirtschaftssektoren in Afrika auch Auswirkungen auf die Strukturen und Zahl der Arbeitsplätze in den Industrieländern haben. Noch klarer gesagt: Wenn wir wirklich wollen, dass die Afrikaner in Zukunft immer mehr ihre eigenen Rohstoffe selbst verarbeiten – und das müssen wir wollen, wenn wir es ernst meinen mit der sogenannten Bekämpfung von Fluchtursachen – dann müssen wir uns darauf einstellen, dass in bestimmten Sektoren Arbeitsplätze, die in Afrika entstehen, bei uns verloren gehen.

Kann sich daraus ein Horrorszenario ergeben, steht nun der große Abstieg des Westens bevor, der, wie manche meinen, durch den Aufstieg Asiens begann und womöglich durch einen Aufstieg Afrikas besiegelt wird? Schließlich droht den Arbeiterinnen und Arbeitern des heute reichen Nordens die doppelte Konkurrenz von Robotern und von den aufstrebenden Mittelschichten des Südens. Ich sehe keinen Grund zur Verzweiflung. Sicherlich ist es eine politische Großaufgabe, dafür zu sorgen, dass die sich verringernden Unterschiede zwischen den Gesellschaften nicht konterkariert werden durch eine weiterhin hohe bzw. ansteigende Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften. Sonst wären wir wieder am selben Punkt angelangt wie vor 200 Jahren, in dem in der Geburtslotterie nicht das Geburtsland, sondern die Klasse, in die man hineingeboren wurde, über die Wohlstandsaussichten entschied. Das darf nicht Teil unserer Vision für die Weltwirtschaft sein.

Die Sorge vor Arbeitsplatzverlusten und steigender Ungleichheit in den Industrieländern muss hier Ansporn für eine andere Verteilungspolitik sein – und vor allem für eine entschlossenere Innovationspolitik. Diese Sorge darf aber nicht dazu führen, den Strukturwandel in Afrika und bei uns aufzuhalten. Das wäre kurzsichtig. Die Akzeptanz des Strukturwandels ist der Preis für mehr Stabilität, Entwicklung und Frieden auf der Welt. Vor allem aber ist er auch eine großartige Chance, gerade für Europa: Wenn wir diesen Strukturwandel im Kontext der Großen Transformation begreifen, wie ich sie oben mit der VN-Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung beschrieben habe, dann kann er weltweit einen Schub ökologischer und sozialer Innovationen auslösen, ja, eine neue Ära des echten Wohlstands für alle. Das ist eine Vision der Weltwirtschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt. Und kämpfen werden wir müssen, denn die Beharrungskräfte der Besitzstandswahrer sind groß.

Dafür müssen wir uns aber von einem großen Missverständnis verabschieden und ganz neu über ein Konzept nachdenken, das wie kein anderes unseren Blick auf Wirtschaft und Politik prägt, ein Konzept, das fast schon magische Kraft zu besitzen scheint, und alle Arten von Problemen auf wundersame Weise zu lösen vermag: ich spreche vom Wirtschaftswachstum.

Ich hoffe übrigens, dass Sie vor Ihrem Kommen gewarnt wurden, dass Köhler-Reden immer Überlänge haben.

V.

Wachstum ist das Mantra der Moderne. Firmen müssen wachsen. Volkswirtschaften müssen wachsen. Ja, sogar Demokratien müssen wachsen, weil wir die Lösung von Verteilungskonflikten längst abhängig gemacht haben von einem stetig wachsenden Kuchen. Die Wachstumsfixierung von Politik und Wirtschaft ist dort am augenfälligsten, wo sie zur Wachstumsratenfixierung degeneriert und sich somit endgültig als Selbstzweck entlarvt: beim G20-Gipfel in Australien 2014 war das zu beobachten, als die Staats- und Regierungschefs sich gegenseitig eine um 2 Prozentpunkte höher liegende Wachstumsrate für die kommenden 5 Jahre versprachen. Dabei wurde mir schon als Student in Tübingen ordnungspolitisch eingebläut, dass Wachstumsratenpolitik oft der Anfang von wirtschaftlichem Niedergang ist. Tatsächlich droht sich jetzt eine politische Kultur der finanz- und geldpolitischen Dauerstimulierung festzusetzen. Damit könnte die nächste Schuldenkrise vorprogrammiert sein.

Und auch die ökologische Krise wird durch unser Wachstumsmantra immer weiter befeuert, denn es ist bisher ja nicht gelungen, das Wachstum vom Verbrauch fossiler Ressourcen zu entkoppeln. Und der Wachstumsratenfetischismus bewirkt eben vor allem auch eine permanente Zurücksetzung der ökologischen Perspektive.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: ich bin nicht gegen Wachstum. Sie erinnern sich, was ich zur Herausforderung von demographischer Entwicklung und Armut gesagt habe – wir brauchen in den armen Ländern massives Wirtschaftswachstum, damit die Menschen dort ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen können – und übrigens auch, weil wir ja wissen, dass bei einer Verbesserung der Lebensbedingungen die Geburtenraten sinken. Es geht also nicht darum, Wachstum pauschal zu verteufeln. Es geht vielmehr um die zwei Fragen: Was soll wachsen – und wo soll es wachsen?

Zum „wo“: Wachstum braucht es vor allem dort, wo den Menschen das Nötigste fehlt, also in den Entwicklungsländern. Dort soll und kann die Politik hohe Wachstumsraten einfahren! Währenddessen zeigen uns schon die Zeitreihen für die reichen Industrieländer, dass die Wachstumsrate über einen langen Zeitraum hinweg kleiner wird. Uwe Sunde von der Universität München hat dafür auch eine plausible bevölkerungswissenschaftliche Theorie vorgelegt. Eine Weltwirtschaft, die sich in den nächsten zwei Jahrzehnten mit Wachstumstrends von gut 5% für die Entwicklungsländer, gut 3% für die Schwellenländer und gut 1% für die Industrieländer entwickeln würde, sollte uns im Prinzip gut schlafen lassen. Tatsächlich rechnet die Bundesbank in ihrem jüngsten Monatsbericht damit, dass die Rate für das Potenzialwachstum in Deutschland bis 2025 unter 1% sinken wird. Das hat meines Wissens bisher keine Aufregung ausgelöst. Diese Gelassenheit ist angesichts des allgemeinen Wohlstandsniveaus in Deutschland einerseits berechtigt. Andererseits sollten wir Gelassenheit nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln und niedrige Wachstumsraten nicht mit Stillstand. Ich glaube, dass schon die Sicherung eines langfristigen Wachstumspfads von 1% eine höhere gesamtwirtschaftliche Investitionsquote verlangt, als wir sie in Deutschland gegenwärtig fahren. Und das wäre zu einer mutigen Umsetzung der SDGs allemal nötig.

Das führt uns zur Frage, was da eigentlich wachsen soll. Wir brauchen ja weiterhin Innovation und Fortschritt, um die vielfältigen Probleme unserer Zeit zu lösen. Aber wir brauchen sie in die richtige Richtung! Manche Sektoren müssen schrumpfen oder verschwinden, da gehört die Kohleindustrie sicherlich dazu, und wir wissen doch alle, auch wenn man das in Stuttgart nicht gerne hört, dass dem Verbrennungsmotor sicher nicht die Zukunft gehört. Demgegenüber sollten vor allem die wissenschaftliche Forschung und alle Wirtschaftsaktivitäten wachsen, die die Dekarbonisierungs- und Effizienzrevolution vorantreiben. Und was wirklich grenzenlos wachsen kann, das sind vor allem zwei Dinge: die menschliche Empathie und die menschliche Kreativität – da komme ich gleich darauf zurück.

Zunächst aber noch einen kurzen Exkurs zu etwas, was definitiv nicht mehr wachsen soll: das ist das spekulative Finanzunwesen von Investmentbanken und Schattenbanken, ein Finanzwesen, das schon lange nicht mehr der Realwirtschaft dient, sondern sie vor sich her treibt. Ist es nicht eine absurde Situation? Da vagabundieren gigantische Summen an Geld um den Globus herum und suchen verzweifelt nach Rendite in immer riskanteren Finanzprodukten, während wir gleichzeitig in Afrika einen gewaltigen ungedeckten Investitionsbedarf haben für Schulen, Krankenhäuser, Straßen, Solarkraftwerke, Eisenbahnen, Dienstleistungen; eigentlich für alles… Dort sollte das Geld hinfließen und zu realwirtschaftlichem Wachstum beitragen, nicht zu den Wachstumsblasen einer selbstreferenziellen Finanzindustrie! Auch ich habe einen Traum: dass die reichen, alternden Gesellschaften des Nordens nachhaltige finanzielle Brücken bauen zu den armen, jungen Gesellschaften des Südens, dass also die Ersparnisse der einen eine echte Rendite finden mit Realinvestitionen bei den anderen. Das könnte zum Verständnis eines neuen globalen Generationenvertrages führen. Ich begrüße es, dass die Bundesregierung im Rahmen der G20-Präsidentschaft darüber nachdenkt, wie für Versicherungsgesellschaften oder Staatsfonds die Anlagemöglichkeiten in Afrika verbreitert und sicher gemacht werden können. Sollte das gelingen, hätte auch die Finanzindustrie als Brückenbauer wieder etwas, was ihr in vielen Teilen schon längst verloren gegangen ist: nämlich Sinn.

Was ist der Sinn von Wachstum, meine Damen und Herren? Was ist der Sinn von Wirtschaft? Und, ja: Was ist der Sinn der Lebens? Diese Fragen sind keine Esoterik, auch wenn sie in der jüngeren Wirtschaftswissenschaft leider nicht mehr oder viel zu wenig gestellt werden, obwohl doch viele Klassiker unseres Fachs auch, oder gar zuallererst, Moralphilosophen gewesen sind.

Wir müssen wieder mehr Klarheit darüber gewinnen, was Wohlstand eigentlich ist, und das beginnt schon mit der Feststellung, dass Wachstum und Wohlstand nicht identisch miteinander sind – das wussten die Sklaven im Schatten wachsender Pyramiden, und das wissen die Bewohner versmogter Industriereviere. Und was ist das gezählte Wachstum denn wirklich wert – könnte es nicht sein, dass der Ressourcenverbrauch fürs Zweit- und Drittauto, die Sinnlosigkeit von Konsum als Statussymbol, oder der Kuraufenthalt wegen Burn-Out im Laufrad der modernen Arbeitswelt in die Wachstumsmessung womöglich auf der falschen Seite eingehen? Die Forschung zeigt ja, dass Menschen in Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen nicht unbedingt glücklicher sind.

Ich glaube, dass die Realität sinkender Wachstumsraten in den Industriegesellschaften, und die ökonomische, ökologische und politische Notwendigkeit, mehr Platz für Wachstum im Süden zu schaffen, vor allem auch eine Chance sein kann, neu zu entdecken, was Wohlstand, was Lebensqualität wirklich ausmacht; neu zu entdecken, was in unserem Leben wirklich Sinn stiftet und Glück bringt. Und das sind vor allem jene Dinge, die keinen Preis haben: zwischenmenschliche Beziehungen, Empathie, Muße, Kunst. Das alles kann und darf wachsen. Und deshalb ist die Aussicht auf eine Weltwirtschaft, die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Formen wächst, auch kein Nullsummenspiel und kein Verzichtsszenario. Sondern es kann uns alle reicher machen. Immanuel Kant erinnert uns daran, dass der Mensch eben dadurch, dass er keinen Preis hat, etwas viel Wertvolleres besitzt, nämlich: Würde.

Und dabei will ich nicht klein reden, dass der Strukturwandel, der uns durch das Dreieck von Industrialisierung im Süden, ökologischer Transformation und Digitalisierung bevorsteht, bei uns zu sozialen Verwerfungen führen kann. Deshalb ist es wichtig, die Vision einer „Weltwirtschaft für alle“ wirklich konsequent zu Ende zu denken. Wir werden eine völlig andere Bildungspolitik brauchen, und ganz neu über Verteilungspolitik nachdenken müssen. Wir müssen uns vorbereiten auf eine Welt, in der möglicherweise nicht genügend klassische Erwerbsarbeit für alle da sein wird. Welche neuen Formen von Arbeit kann es geben? Müssen wir vielleicht das Einkommen vom Faktor Arbeit entkoppeln und über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken, oder – wie ich persönlich das plausibler finde – über eine negative Einkommenssteuer? Wie können wir gesellschaftliche Teilhabe und Selbstermächtigung ganz unabhängig von Erwerbsarbeit fördern? John Maynard Keynes hat sich noch gefragt, was die Menschen wohl um das Jahr 2030 mit der vielen freien Zeit anfangen würden, wenn sie dank Produktivitätsfortschritt mit wenigen Wochenarbeitsstunden ihren Lebensbedarf erarbeiten könnten. Lassen Sie uns über diese Frage endlich wieder diskutieren, und zwar besser früher als später.

VI.

Meine Damen und Herren,

spätestens jetzt werden sich manche von Ihnen am Kopf kratzen und tuschelnd fragen, ob der Köhler unter die Kapitalismuskritiker gegangen ist. Oder, noch weitgehender, Sie werden die berechtigte Frage stellen, ob die schöne Vision, die ich hier zeichne, wirklich innerhalb des bestehenden Systems zu erreichen ist.

Ich möchte heute Abend keinen Zweifel daran lassen: ich bin ein in die Wolle gefärbter Marktwirtschaftler. Ich glaube fest daran, dass sich die Kreativität der Menschen vor allem unter den Bedingungen der Freiheit und des Wettbewerbs entfaltet – möge die beste Idee gewinnen. Ich glaube fest daran, dass sich Risikobereitschaft und Fleiß lohnen müssen. Ich glaube aber genauso fest, dass Eigentum verpflichtet (so steht es in unserem Grundgesetz!), dass Risiko und Haftung zusammengehören, dass auch die Schwachen geschützt werden müssen, und dass Preise tatsächlich die wahren Kosten wiederspiegeln müssen. Und ich glaube, dass die Marktwirtschaft ein Ordnungsprinzip für die Wirtschaft ist, und nicht für alle menschlichen Lebensbereiche. Was Würde hat, das darf kein Preisschild haben. Wir müssen uns fragen, wie weit der globale Kapitalismus, wie wir ihn heute erleben, noch etwas damit zu tun hat. Seine inhärente Erbarmungslosigkeit gegenüber Verlierern, seine Schlitzohrigkeit gegenüber Regeln, seine Gleichgültigkeit gegenüber ökologischen Externalitäten, und seine ungeheure Fähigkeit, sich Dinge Untertan zu machen, die eigentlich keiner Marktlogik folgen sollten – davor haben Philosophen und Ökonomen, haben Kant und Smith und Röpke und viele andere durch die Geschichte hindurch gewarnt. Ich halte es für nötig und möglich, diese Spielart des Kapitalismus mit einer vielgestaltigen Form einer globalen sozial-ökologischen Marktwirtschaft zu ersetzen. Wir werden dazu aber nur eine Chance haben, wenn die Staaten der Welt miteinander daran arbeiten und nicht gegeneinander. Auch deshalb ist das derzeitige Klima der Konfrontation und des aufkeimendem nationalen Egoismus in der Weltpolitik und Weltwirtschaft so gefährlich. Und gerade deshalb sind die Vereinten Nationen und der von dort vorgeschlagene Paradigmenwechsel zu einer globalen Partnerschaft so wichtig.

Ganz unabhängig von der großen Politik ist es heute schon jedem möglich, an dieser neuen Vision einer Weltwirtschaft mitzuarbeiten, die allen ein Leben in Würde ermöglicht, ohne den Planeten zu zerstören – und schon heute gibt es dafür unzählige Beispiele in Kommunen, nicht zuletzt auch hier in Tübingen, in Schulen, Universitäten, Betrieben und Familien.

Und die Wirtschaftswissenschaft? Muss sie nicht wertneutral sein, sich zurückhalten, auf Visionen verzichten?

Lassen Sie mich es für mich persönlich sagen: In meiner langen Karriere als Ökonom habe ich immer dann am meisten gelernt, wo die Grenzen der Ökonomie gesprengt wurden, wo ich nach links und rechts schaute, in die Kultur, die Politik, ja auch die Theologie – und ich kam immer dann weiter, wenn ich die Frage nach dem Sinn nicht ausklammerte. Meistens habe ich ein politisches Problem erst dann so richtig verstanden, wenn ich es nicht nur mit der Brille des Ökonomen betrachtete.

Ich wünsche mir also eine Wirtschaftswissenschaft, die sich nicht als Rechtfertigungswissenschaft für ein bestimmtes Wirtschaftsmodell versteht, sondern als Rechenschaftswissenschaft – die also mit Empirie und Theorie den ökonomischen Strukturen und Akteuren stets abverlangt, ihren Sinn nachzuweisen. Ich wünsche mir eine Wirtschaftswissenschaft, welche ihre Wurzeln der Moralphilosophie für die heutige Zeit wiederentdeckt. Ich wünsche mir eine Wirtschaftswissenschaft, welche die Reibungen, die durch eine globale Perspektive deutlich werden, in Energie für konstruktive Lösungen umwandeln kann. Und ich wünsche mir eine Wirtschaftswissenschaft, welche die Widersprüche unserer Zeit nicht wegerklärt, sondern auf den Punkt bringt.

Es gehört zum Kreuz des modernen Menschen, all die Widersprüche, die unsere Moderne produziert, all die Gleichzeitigkeit von Destruktion und Konstruktion, auch aushalten zu müssen. Das überfordert viele. Und deshalb ist wie nie zuvor die Politik, aber auch die Wissenschaft gefragt, einen produktiven Umgang mit diesen Paradoxien zu finden, die sich nie ganz werden auflösen lassen – eben keine leichten Antworten zu geben, sondern zu ringen mit den komplexen Gebilden, mit den Reibungspunkten, und mit der Vielfalt der Perspektiven zu kreisen um ein Problem, bis die verschiedenen Anforderungen in ein neues Gleichgewicht kommen.

Ich wünsche Ihnen und uns allen: Lust an diesem Kreisen, Freude an der Vielfalt, am Widerspruch, am In-Frage-Stellen – und Mut zu Visionen.

Vielen Dank.