Begabungen entdecken und entfalten: 100 Jahre BLISTA und DVBS

Grußwort zum 100jährigen Bestehen der Deutschen Blindenstudienanstalt und des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V.
Marburg, 22. September 2016



„Herzlich willkommen!“, so wurden meine Tochter Ulrike, meine Frau und ich begrüßt, als wir vor nun fast 30 Jahren in der Wohngruppe am Schlag eingeladen waren. Damals gab es Kaffee und Kuchen, viele Fragen und einen besorgten Vater. Als wir nach zwei Stunden wieder gingen, gab es keinen Kaffee und keinen Kuchen mehr und nur noch wenige Fragen. Vor allem aber gab es ermutigende Antworten, und dem Vater war das Herz nicht mehr ganz so schwer. Natürlich hatten meine Frau und ich uns vorher genau informiert, in was für ein Internat wir unsere Tochter da geben wollten und wir hatten uns mit Lehrerinnen und Betreuern ausgetauscht. Aber es waren letztendlich die Schülerinnen und Schüler, die uns davon überzeugt haben: Hier an der BLISTA in Marburg ist unsere Tochter gut aufgehoben. Hier kann sie ihre Begabungen entdecken und entfalten. An der BLISTA wird sie gut gewappnet, falls ihr der Lebenswind einmal zu stark um die Ohren pfeift.

Übrigens wäre Ulrike heute gerne selbst gekommen, um mit ihrer alma mater zu feiern, aber sie ist wegen eines unverschiebbaren Termins verhindert. Sie hat mir aber aufgetragen, ihre herzlichsten Grüße auszurichten.

Es war Carl Strehl, der der BLISTA und dem DVBS vor nun 100 Jahren die Richtung gewiesen hat. 1907 erblindete er als junger Mann durch einen Arbeitsunfall. Bereits 6 Jahre später hat er Abitur gemacht und dann – wie ich mit Vergnügen festgestellt habe – genau wie ich Volkswirtschaft studiert. Er hat die Ärmel hochgekrempelt und die BLISTA und den heutigen DVBS gemeinsam mit dem Augenarzt Alfred Bielschowsky aufgebaut. Wir müssen den beiden heute sehr dankbar dafür sein. Carl Strehl war ein Anpacker, ein Visionär, ein social entrepreneur, Jahrzehnte bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Er handelte nach dem Motto „Nichts über uns ohne uns“, lange bevor dies zum Slogan der Behindertenrechtsbewegung wurde. Er war seiner Zeit weit voraus, und ich denke davon profitiert die BLISTA bis heute. Carl Strehl war Handelnder, nicht Behandelter, und so unterschied sich die BLISTA von Anfang an von so mancher Fürsorgeanstalt des letzten Jahrhunderts, deren muffiger Paternalismus bis heute Spuren hinterlässt.

Natürlich war auch der Weg der BLISTA nicht immer ein leichter und auch nicht frei von Irrungen. In den 12 Jahren des Nationalsozialismus arrangierte sich Direktor Strehl mit dem System, wohl um das von den Nazis kritisch beäugte Blindenwesen am Leben zu halten. Ich finde es gut und wichtig, dass die BLISTA diese ambivalente Phase ihrer Geschichte auch wissenschaftlich aufarbeiten lässt.

Meine Damen und Herren,
in den letzten 100 Jahren mussten BLISTA und DVBS sich immer wieder verändern und weiterentwickeln. Vor allem mussten – und durften – sie sich immer wieder überraschen lassen vom Potenzial der eigenen Leute und waren immer wieder herausgefordert, dieses Potenzial zu fördern. Diese Herausforderung ist nie zu Ende. Was heute, im Jahr 2016, hier alles los ist, davon kann sich jeder zum Beispiel auf dem Blista-youTubeChannel selbst überzeugen. Kinder und Jugendliche werden an der BLISTA nach ihren ganz individuellen Talenten gefördert. Sie können hier beispielsweise ihr Abitur machen und dabei zwischen den Schwerpunkten Wirtschaft, Gesundheit und Soziales wählen. Auch eine Ausbildung zur IT-Spezialistin oder zum kaufmännischen Assistenten inklusive Praktika im In- oder Ausland sind möglich. Schüler der BLISTA spielen Goal-Ball, Rudern mit den Schülern der Steinmühle oder absolvieren ihren Leistungskurs PoWi gemeinsam mit Schülerinnen an der Martin Luther Schule. Die Lesehungrigen versorgen sich mit ganz verschiedenem Futter aus der Hör- und Braillebücherei. Manche sind gerade in einem Auslandsschuljahr in den USA.

Da spürt man eine Selbstverständlichkeit, mit der in der BLISTA der individuelle Schüler, die individuelle Schülerin betrachtet wird, jenseits aller Kategorien, die in der deutschen Bildungslandschaft alles andere als selbstverständlich ist. Zuerst zu fragen: „Was kannst du?“, bevor man fragt: „Was kannst du nicht?“, das ist nicht einfach gute Blindenpädagogik, sondern das ist gute Pädagogik. Und damit, meine Damen und Herren, ist die BLISTA ein Vorbild für alle Schulen, auch für die sogenannten Regelschulen. Wie könnte unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir konsequent die Befähigungen eines jeden einzelnen in den Vordergrund stellten, und nicht seine Beschränkungen?

Das heißt nicht, dass die jungen Leute hier in Marburg alleine gelassen werden im Umgang mit den Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt, wenn man blind ist oder eine Sehbehinderung hat. Spezialistinnen stellen mit Kreativität und Sachverstand individuell zugeschnittene Lernmaterialien her. Mobilitätstrainerinnen schulen die Orientierung mit dem Langstock. Wieder andere Mitarbeiter des RES, der Rehabilitationseinrichtung für Blinde und Sehbehinderte, beraten Kinder und Erwachsene, welches Lesegerät oder welche Lupe helfen kann, den Seh-Rest optimal einzusetzen. Diese Expertise wird auch Jugendlichen zuteil, die nicht ins Internat, sondern in ihrer Heimatstadt zur Schule gehen. Unverzichtbar ist diese Expertise auch für Erwachsene und Jugendliche, die spät erblindet sind und an der BLISTA den Rehabilitationskurs besuchen. Nicht nur hier bietet die BLISTA einen geschützten Raum, wenn die eigene Welt einmal angehalten werden muss, weil das Herz schwer wird und sich Grenzen auftun, die unüberwindbar erscheinen und es manchmal vielleicht auch sind. Bei Bedarf sind dann auch behutsame Psychologen zur Stelle. Dabei muss es gar nicht immer um die Behinderung gehen. Schließlich gehört ja zum Erwachsenwerden so Einiges dazu!

Wenn es nach der Schule hinaus in die Welt geht, bietet der DVBS Austausch und vielfältige Unterstützung, damit die berufliche Ausbildung oder das Studium gelingen kann. Ich glaube, dass die Arbeit des DVBS von unschätzbarem Wert ist – für den Einzelnen und für die Gesellschaft als Ganze. Denn trotz großer Fortschritte ist es ja leider immer noch so, dass der Anteil der Menschen mit Behinderungen etwa unter den Studierenden deutlich unter ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt. Wieviel Potenzial bleibt hier unentdeckt? Damit sich hier weiter etwas ändert, brauchen wir eine Politik, die noch konsequenter Barrieren abbaut und Teilhabe ermöglicht. Denn es reicht eben nicht, nur die individuellen Befähigungen zu fördern. Es braucht darüber hinaus die gesellschaftlichen und institutionellen Grundlagen, dass der Einzelne diese Befähigungen dann auch einbringen kann. Ich bin deshalb froh, dass die BLISTA und der DVBS sich mit ihren Erfahrungen in die politische Diskussion einbringen. Ihre Stimme etwa in der derzeitigen Auseinandersetzung um das Bundesteilhabegesetz ist dringend nötig. Ich wünsche mir jedenfalls, dass die Bundesregierung die massiv geäußerten Sorgen und Einsprüche ernst nimmt.

Meine Damen und Herren,
ich möchte die beiden Geburtstagskinder, die BLISTA und den DVBS, auch ermutigen, sich im Wandel treu zu bleiben: denn natürlich ist die gesellschaftliche Herausforderung der Inklusion heute eine andere als vor 100 oder vor 20 Jahren, und sie wird in 20 Jahren eine andere sein als heute. Fürchten Sie sich nicht davor, was diese Veränderungen auch für die BLISTA bedeuten, sondern umarmen Sie sie, und wagen Sie es, wie einst Carl Strehl der Zeit voraus zu sein. Ich finde zum Beispiel, dass der Umzug der Montessori-Grundschule auf den BLISTA-Campus am Schlag ein kluger Schritt in diese Richtung ist. Und wer weiß, vielleicht gibt es eines Tages ja sogar Kinder ohne Sehbehinderung in den Klassen der Carl-Strehl-Schule?

Meine größte Ermutigung möchte ich den Menschen der BLISTA-Familie zurufen: Deutschland braucht Sie alle mit Ihren Talenten und Begabungen. Das gilt für die Lehrerinnen und Betreuer der BLISTA, für die Mitarbeiter im RES, für die Engagierten beim DVBS, für alle Alumni. Und besonders gilt dies für die Schülerinnen und Schüler der Carl-Strehl-Schule, da Sie ja noch Ihr ganzes Leben vor sich haben. Das heißt natürlich nicht, dass Sie so Herausragendes leisten müssen wie Carl Strehl, schließlich wird von den Schülern der Elisabeth-Schule auch nicht verlangt, dass sie Heilige werden. Aber der Namensgeber der Carl-Strehl-Schule und Mitbegründer des DVBS kann uns alle daran erinnern: Jeder Mensch muss seine Begabungen entdecken und entfalten dürfen. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Lassen Sie sich nicht irritieren von den Steinen, die Ihnen in den Weg gelegt werden. Seien Sie sich gegenseitig Vorbild und Ermutigung. Greifen Sie nach den Sternen. Und lassen Sie sich von niemandem erzählen, dass die Sterne für Sie unerreichbar seien.

Übrigens hat der Vater mit dem schweren Herzen, der einst seine Tochter hierher nach Marburg begleitete, in diesen Tagen ein übervolles Herz: in wenigen Wochen werde ich dabei sein, wenn Ulrike ihre Dissertation in Literaturwissenschaften verteidigt, und dann werde ich mich daran gewöhnen müssen, nicht der einzige „Dr. Köhler“ in der Familie zu sein. Das sage ich mit vor Vaterstolz geschwellter Brust, aber ich sage es auch mit Dankbarkeit für das Fundament, das hier an der BLISTA für meine Tochter gelegt wurde.

Liebe BLISTA, lieber DVBS, herzlichen Glückwunsch zum 100jährigen Jubiläum! Und danke, dass Sie so viele junge Menschen dabei unterstützt haben und unterstützen, das zu werden, was sie sein können.