Ansprache bei der Entgegennahme der Alexander-Rüstow-Plakette

Paderborn, 23. November 2011



I.

Die Auszeichnung mit der Alexander-Rüstow-Plakette bedeutet mir viel. Herzlichen Dank!

Ich habe Alexander Rüstow nicht persönlich gekannt; aber ich habe seine Schriften gelesen, zu beherzigen versucht und gelegentlich zitiert – zum Beispiel seine Forderung nach einem Staat „oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten“. Solchen ordnungspolitischen Aussagen haben dann in der Geschichte der Sozialen Marktwirtschaft oft Einzelinteressenten und deren Organisationen widersprochen, mal diese, mal jene. So entstand im Lauf der Zeit ein „Widerspruchsmuster“, das parteienübergreifend und ausgewogen war. Das mag man für den Bundespräsidenten erfreulich finden, der ja zur Überparteilichkeit und Ausgewogenheit verpflichtet ist. Aber es zeigt wohl auch, und das ist weniger erfreulich, wie es bei uns um die Soziale Marktwirtschaft als politisches Ordnungskonzept steht: Das finden praktisch alle gut, ganz ausgezeichnet sogar – es darf nur nicht die Verfolgung des jeweiligen Eigeninteresses einengen, dann wird es schnell als unbequem empfunden und als dogmatisch kritisiert.

Nun, gute Ordnungspolitik muss unbequem sein, sonst bleibt sie „Laissez-faire“. Und gute Ordnungspolitik ist nicht dogmatisch, aber radikal, sie geht an die Wurzel. Beide Qualitäten lassen sich trefflich an dem Beispiel studieren, das Alexander Rüstow gegeben hat.

II.

Seine Freunde, allen voran Wilhelm Röpke und Theodor Heuss, haben uns ein Bild seiner Persönlichkeit überliefert: tapfer, humorvoll, ungewöhnlich umfassend und tief gebildet, mit manchem Tropfen Rebellenblut in den Adern und von unbeugsamer Freiheitsliebe. Diese Liebe zur Freiheit war es auch, die ihn 1933 ins Exil führte, an die Universität Istanbul.

Übrigens ist das ein Kapitel der guten deutsch-türkischen Beziehungen, das die Öffentlichkeit noch besser entdecken sollte: Tausende Deutsche haben während der Nazizeit in der Türkei Zuflucht, Hilfe und Arbeit gefunden, von Rüstow und Röpke bis zu Paul Hindemith und Ernst Reuter. Der demokratische und marktwirtschaftliche und geistige Wiederaufbau Deutschlands verdankt dem viel.

Alexander Rüstow war Geisteswissenschaftler, von Haus aus Altphilologe, von dem es freilich schon in jungen Jahren hieß, er nehme auch „nationalökonomische Probleme wie schwierige Stellen aus dem Aristoteles“. Er wurde ein Mann der wirtschaftspolitischen Praxis, und das in beiden Rollen: als für Kartellrecht und Wettbewerbskontrolle zuständiger Beamter und dann als Vertreter eines Verbandes relativ kleiner Unternehmen in einem von Oligopolen und Protektionismus geprägten Umfeld. Er hatte einen klaren Blick für die soziale Ungerechtigkeit und politische Selbstzerstörungtendenz ungezügelter Märkte. Und er erlebte die Bedrohung und Vernichtung von Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft durch die kollektivistischen und tyrannischen Bewegungen des Nazismus und des Kommunismus.

Vor diesem Hintergrund und dank dieser Erkenntnisse und Erfahrungen hat Rüstow zu der kritischen und lernfähigen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft einen Beitrag geleistet, der mir so aktuell und hilfreich erscheint wie nur je.

III.

Dieser Beitrag beginnt mit der Kritik an einem quasireligiösen Vertrauen auf die Vernünftigkeit der Marktgesetze und des Marktgeschehens. Rüstow hat gezeigt, wie nicht allein in dem ungemein populären Symbol der „Unsichtbaren Hand“ bis in unsere Zeit die philosophische und „subtheologische“, wie er es nennt, Glaubensgewißheit weiterwirkt, die freie, die kapitalistische Marktwirtschaft sei die beste aller Welten. Das Credo dieser wirtschaftspolitischen Gemeinde lautet: Die Entfesselung der Marktkräfte führt Einzelinteresse und Gesamtinteresse optimal zusammen. Die Märkte regulieren sich selber, sie belohnen die Tüchtigen, sie steigern den Wohlstand Aller und sie haben sogar die selbstreinigende Kraft, Betrug und Ausbeutung auszumerzen.

Rüstow hat geistes- und wissenschaftsgeschichtlich gezeigt, wie diese Sichtweise entstand und warum sie weltanschaulich gerade der Wirtschaft eine so zentrale Stellung einräumte: Die Entdeckung des Preismechanismus und der Gesetze von Angebot und Nachfrage bot ein politisch unglaublich durchschlagendes Argument gegen die merkantilistische Bevormundung und für die Freiheit der Bürger. Das freie Spiel der Marktkräfte war damit zugleich ein Herold der politischen Freiheit. Und um dem so unsichtbaren wie scheinbar gottgewollten und wohltätigen Gesetz des freien Marktes Bahn zu brechen, bedurfte es staatlicherseits keiner anderen Anstrengung, als der Maxime zu folgen: Laissez faire, laissez passer!

Diese Erlösungslehre hat im 19. Jahrhundert zu dem Elend etwa der schlesischen Weber und zur Ausbeutung nicht allein der englischen Fabrikarbeiter geführt, und sie hat als Gegenreaktion die kollektivistischen Lehren und Bewegungen heraufbeschworen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben. Sie hat zu Monopolismus geführt und in seiner Folge zum übermäßigen politischen Einfluss einzelner Unternehmen und Branchen. Dieser Einfluss wiederum – alles nachzulesen bei Rüstow! – wurde genutzt, um Subventionen zu erwirken und die faire Leistungskonkurrenz immer weiter zu verzerren und zu beseitigen. Die staatliche Monopolkontrolle blieb schwach, weil sie zu spät ansetzte, wenn nämlich die

übermäßige Wirtschaftsmacht längst entstanden war, statt sie von vornherein zu verhindern. Zudem blieb sie den Schlichen der Wirtschaftsinteressenten gegenüber fachlich meist im Hintertreffen, und oft genug begab sie sich sogar in deren intellektuelle Abhängigkeit und lief kurzerhand zu dem Standpunkt über, was gut sei für die mächtigen Unternehmen, das sei auch gut für die Wirtschaft als ganze und für das ganze Land. Geriet dann aber eine solche mächtige Branche in Schwierigkeiten, dann rief sie umgehend nach staatlicher Rettung, und der Staat intervenierte und zementierte damit nur die Fehlentwicklungen. Zuguterletzt trugen dann auch noch Klientelpolitik und Wahlgeschenke der politischen Parteien dazu bei, die Marktwirtschaft zu entkernen: Sie trieben die Staatsausgaben hoch und gewöhnten die Bürger an soziale Wohltaten und fürsorgliche Betreuung.

IV.

Dem setzte Rüstow und setzen alle ernsthaften Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft Forderungen entgegen, die nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben.

Über allem steht: Die Wirtschaft dient dem Glück der Freien.

Sie dient, das heißt: Sie ist nicht der Zentralbezirk des Zusammenlebens, um den sich alle anderen Belange nur gruppieren und dessen Anforderungen alle anderen zu genügen haben. Darum verbietet sich eine Ökonomisierung aller anderen Lebensbereiche.

Sie dient dem Glück der Menschen, das heißt: Sie soll Verhältnisse zu schaffen helfen, in denen sich der einzelne wohlfühlt, sie soll seine „Vitalsituation“ – ein Rüstow’scher Begriff – verbessern. Das ist keine Frage allein der Einkommenshöhe und Arbeitszeit oder allein von Wachstum und Umverteilung. Es kann im Gegenteil bedeuten: Maß halten, die Umwelt schonen, das gute Miteinander pflegen statt einen Fetischismus der Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts.

Sie dient dem Glück der Freien. Allein die Freiheit, nicht die Wirtschaft ist ein höchster, ein absoluter Wert. Jede und jeder soll wirklich des eigenen Glückes Schmied sein können. Das verlangt politische Freiheit und faire Leistungskonkurrenz, darum sind freiheitliche Demokratie und Soziale Marktwirtschaft ein Zwillingsgestirn und aufeinander angewiesen. Es verlangt auch Startgerechtigkeit durch gleiche Bildungschancen, und Rüstow hat bekanntlich sogar wirtschaftliche Startgleichheit durch ein radikal begrenztes Erbrecht gefordert. So weit wird nicht jede und jeder von uns ihm folgen wollen, aber in einem sind alle Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft einig: Die Freiheit und das Gemeinwohl müssen auch gegenüber der Wirtschaft, gegenüber dem Markt und gegenüber den Sonderinteressen aller Art gewahrt und verteidigt werden.

Das aber erfordert einen starken Staat, der um der Freiheit und Fairness der Märkte willen Ordnung schafft und marktkonform interveniert, und es erfordert eine vitale Demokratie. Sie müssen das Wirtschaftsgeschehen, sich selbst und damit uns alle gegen zwei hauptsächliche Gefahrenquellen schützen:

  • gegen Märkte, die mangels Regeln und Kontrolle allein der Eigensucht und dem Streben nach möglichst hohem Profit freien Lauf lassen,
  • und gegen ein Verständnis von der Politik, bei dem politische Parteien und Volksvertretungen zum Marktplatz von Partikularinteressen herunterkommen und wo nicht mehr über unterschiedliche Meinungen über die beste Förderung des Gemeinwohls debattiert wird, sondern nur noch Einzelinteressen abgeglichen und bedient und Wahlgeschenke ausgestreut werden.

V.

Aber die aus Freiheitsliebe erwachsende Forderung nach dem starken Staat löst gerade hierzulande auch starke Gegenreflexe aus: Das sei doch bestenfalls Staatsmystik und schlimmstenfalls der Ruf nach dem alten Obrigkeitsstaat, und das sei zudem alarmistisch im Befund und idealistisch und utopisch in der Therapie. Diese Einwände haben schon die Väter der Sozialen Marktwirtschaft immer und immer wieder gehört.

Dem halte ich zweierlei entgegen.

Erstens: Denken wir so niedrig von unserem eigenen, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, dass wir seine Stärke fürchten? Vertrauen wir so wenig unserer Fähigkeit als Staatsbürger, seinem Handeln die richtige Richtung zu geben und ihn dafür zu ertüchtigen, den Mächtigen und den Gewieften den nötigen Rahmen zu setzen und sie im Dienste des Gemeinwohls vernünftig zu kontrollieren? Oder sollte es nicht unser aller Anliegen sein, dass der Staat jedem die Machtfrage stellt, der sich in der einen oder anderen Form auf Kosten der Allgemeinheit bereichern will?

Die Antworten liegen, finde ich, auf der Hand. Ich gebe in diesem Sinne Alexander Rüstow Recht, der 1932 in einem berühmten Diskussionsbeitrag gesagt hat, dass es sich bei der Ordnung der Freiheit „um Fragen der Willensbildung, um politische und staatspolitische Fragen handelt (…), dass nicht die Wirtschaft unser Schicksal ist, sondern der Staat, und dass der Staat auch das Schicksal der Wirtschaft ist.“

Diesen starken, handlungsfähigen, in einem guten Sinne über den Partikularismen stehenden Staat zu schaffen und zu erhalten ist eine politische Daueraufgabe aller Demokraten. Sie führt auf sehr grundsätzliche Fragen. Zum Beispiel: Besitzt die große Mehrheit der Bürger auf diesen Staat mit seiner Parteiendemokratie einen so entscheidenden Einfluss, dass sie einen wirksamen Anreiz hat, auf das Gemeinwohl zu achten? Und sind die Lebensverhältnisse in diesem Staat dank Chancengleichheit und fairer Konkurrenz so durchlässig, dass jede und jeder damit rechnen muss, auch einmal zur Minderheit zu zählen, und also den Anreiz hat, auch auf deren Wohl zu achten? Beides hängt von Vielem ab, zum Beispiel vom Wahlrecht, von der Qualität des Bildungswesens, vom Grad an Rechtsstaatlichkeit und gesellschaftlichen Achtung vor dem Recht und übrigens auch von der Frage, ob das Land sich auf einen exzellenten und parteipolitisch neutralen Öffentlichen Dienst stützen kann.

Darum lässt sich an der politischen Ökonomie eines demokratischen Staates immer auch ablesen, wie viel seine Bürgerinnen und Bürger von Politik verstehen und wie viel Engagement sie ihr widmen. Und darum kann sich in der europäischen und weltweiten Zusammenarbeit den beteiligten Nationen mitunter die Frage stellen: Passen denn überhaupt unsere Politikstile und unser ganzes politisches savoir vivre zusammen?

VI.

Und das führt mich zu der zweiten Entgegnung auf den Einwand, der Ruf nach dem Staat als einem starken Hüter der Märkte und des Gemeinwohls sei alarmistisch und idealistisch: Haben wir denn nicht gerade erlebt, wie sich alle beide großen Gefahren verwirklicht haben, vor denen die Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft immer gewarnt haben, die Gefahr der wirtschaftlichen Oligarchisierung ebenso wie die Gefahr der Gefälligkeitsdemokratie?

Die internationale Finanzkrise bietet doch geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie eine Wirtschaftsbranche, nicht zuletzt dank der falschen Erlösungslehre vom unfehlbaren Markt und von der wohltätigen Unsichtbaren Hand, auch politisch so mächtig wurde, dass sie am Ende der Gesamtwirtschaft und dem Gemeinwesen schweren Schaden zufügen und den Staat und die Steuerzahler als Ausfallbürgen herbeizwingen konnte. Alle Zutaten kamen zusammen: ein Geschäftsfeld, das nur wenigen, großen Firmen offenstand, weil nur sie sich die Wissenschaftler, die mathematischen Modelle und die Computertechnik für immer komplexere Papiere und Sicherungsgeschäfte zu leisten vermochte; eine Branche, die mit Milliardenbeträgen an Dollar Lobbyarbeit für ihre Interessen betrieb; eine Zentralbankpolitik des permanent billigen Geldes und Posten in Regierungen, Parlamenten und Aufsichtsbehörden, die durch Drehtüren mit den lukrativen Jobs in der Finanzindustrie verbunden waren. Das vielleicht Wichtigste aber war die den Handelnden (und auch den Unterlassenden!) gemeinsame Überzeugung, dass die neuen Märkte und Produkte keiner Regulierung und Aufsicht bedürften, dass staatliche Regeln nur wertvolles Wachstum kosten und produktive Kreativität behindern würden und dass das freie Spiel des Marktes sogar der Gier und dem Betrug wirksame Schranken setzen würde.

Das Ergebnis all dieser Zutaten und frommen Erwartungen ist bekannt: eine weltweite Rezession, die Desavouierung des westlichen Wirtschaftsmodells in den Augen gerade der Nationen, die jahrzehntelang in Wirtschaftsfragen vom Westen geschulmeistert wurden, eine immense Staatsverschuldung, verbunden mit der Erosion des Vertrauens in die Demokratie, eine spürbare Entfremdung zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft, eine weitere Konzentration des Bankensektors und die Befürchtung, dass sich alles das wiederholen kann und wird, weil die Finanzindustrie allem Anschein nach wenig aus der Katastrophe gelernt hat, sondern im Gegenteil weiter darauf setzt, auch künftig vom Staat herausgehauen zu werden. Es ist fraglich, ob der das noch einmal schaffen könnte, sowohl was seine finanzielle Leistungskraft anbetrifft als auch was seine demokratische Akzeptanz angeht. Aber selbst dann wäre er kein starker, sondern bliebe er ein schwacher Staat, der eben gerade nicht die Machtfrage stellt.

VII.

Die aktuellen Schuldenkrisen europäischer Staaten wiederum bieten doch geradezu ein Musterbeispiel dafür, was geschieht, wenn die Lobbyisten und die Klientelpolitiker eine Demokratie highjacken und die Politik Wohltaten auf Pump spendiert. Dann richtet sich ein Land ganz demokratisch selbst zugrunde – Demokratie immerhin, aber eine törichte und zugleich eine, die unverantwortlich an ihrer Jugend und an kommenden Generationen handelt, noch dazu angesichts der demographischen Entwicklung. Auch da: kein starker Staat, sondern ein Staat als Beute, als Melkkuh und als Spiegelkabinett, in dem die meisten Verantwortlichen nur immer rufen: „Haltet den Dieb!“

Die Märkte haben dieses Versagen der politischen Ordnung, dieses Staatsversagen empfindlich sanktioniert. Das zu tun haben die Europäische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion nicht vermocht. Darum haben auch sie an dieser Stelle versagt, und auch gegen dieses Versagen muss ordnungspolitisch vorgegangen werden.

VIII.

Nun aber: Was tun? Immerhin sind ja unser Land und unsere Volkswirtschaft und damit wir alle von diesen beiden großen Herausforderungen, von der Finanz- und der Schuldenkrise vielfach betroffen und belastet, ob wir nun wollen oder nicht. Wir alle verfolgen mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung die Kette der Konferenzen, den Reigen der Rettungspläne und die Fülle der Versprechen. Was kann in dieser Stunde der Exekutiven und der parlamentarischen Exekutivbeschlüsse, was kann in dieser nun zugegebenermaßen schon einige Jahre andauernden Stunde der Beitrag der Sozialen Marktwirtschaft sein?

Lassen Sie mich beispielhaft dazu nur drei grundsätzliche Empfehlungen nennen:

Die erste Empfehlung lautet: Keine Nation und kein Parlament sollten sich einreden lassen, sie könnten ordnungspolitisch nicht handeln, weil das angesichts der europäischen und der weltweiten wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtung unwirksam oder sogar schädlich sei. Beliebt ist vor allem die Warnung (häufig gemeint auch als Drohung) von Wachstumsverlusten im Falle eigenständiger Ordnungspolitik. Ich bin davon überzeugt: Eine Ordnungspolitik, die Freiheit und fairen Leistungswettbewerb mit einer aktivierenden Sozialpolitik oder „Vitalpolitik“ im Sinne Alexander Rüstows verbindet, ist die beste Gewähr auch für stetiges, weniger krisenanfälliges Wirtschaftswachstum. Und wenn die Entstehung von wirtschaftlicher Macht verhindert wird, die politisch zu werden droht, dann dient das langfristig immer unserer freiheitlichen Demokratie und der „Vitalsituation“ ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Die zweite Empfehlung gilt vor allem für die Ursachen der Finanzkrise. Ich zitiere dazu gern den späteren Alan Greenspan, den Alan Greenspan vom Oktober 2009: „If they’re too big to fail, they’re too big.“ Mit anderen Worten: Wenn wir nicht wollen, dass Finanzinstitutionen zu groß zum Scheitern sind, dann müssen wir sie verkleinern und ihr Wachstum deckeln. Dann dürfen wir nicht allein darauf setzen und hoffen, dass wir ihre

Geschäfte schon detailliert genug und smart genug regeln und überwachen können, sondern dann müssen wir sie verkleinern und ihr Wachstum deckeln. Nur so erreichen wir mit Gewissheit, dass privatwirtschaftliche Freiheit der Entscheidung und Haftung zwei Seiten einer Medaille sind und damit unsere Marktwirtschaft wirklich auf zwei Beinen steht. Die bisherigen Beschlüsse, so wichtig und wertvoll sie für sich genommen auch sind, reichen dafür nicht aus. Im Gegenteil: Stresstests und verbindliche Eigenkapitalquoten lassen sich auch verstehen als staatliches Bail-out-Versprechen für alle, die sie erfüllen und dennoch wieder in Schwierigkeiten geraten.

Die dritte Empfehlung betrifft die europäische Schuldenkrise. Gewiss, da muss nun parallel zum Krisenmanagement aufrichtig daran gearbeitet werden, die europäischen Institutionen und ihre Unabhängigkeit zu stärken, denen die Stabilität der Gemeinschaftswährung anvertraut ist. Das Recht muss wieder aufgerichtet und die Vorkehrungen und die Sanktionen gegen haushalts- und finanzpolitische Verantwortungslosigkeit müssen geschärft werden. Das verlangt zwingend und als wichtigstes marktwirtschaftliche Strukturreformen in den Schuldnerstaaten.

Aber zu alledem, so wichtig es ist, muss noch etwas entscheidendes Anderes hinzukommen: Die Staatsnationen Europas müssen sich darüber klarwerden und darüber einigwerden, wie sie künftig auf den unterschiedlichen Ebenen politisch endlich zusammenwirken wollen. Die Staatsnationen Europas müssen erforschen, nicht nur welche Regeln das erfordert, sondern auch welche Haltungen, um diese Regeln mit Geist und Leben zu erfüllen. Es gibt Witze von der Art, die Hölle sei wohl ein Ort, an dem die Engländer für das Essen, die Griechen für die Organisation und die Deutschen für den Humor zuständig seien. Nun, die Europäische Union sollte nicht für ähnliche Witze taugen. Sie soll vielfältig bleiben, wo Vielfalt Stärke ist; aber wo sie Schwäche bedeutet, da braucht die Europäische Union statt dessen innere Konsistenz, Glaubwürdigkeit und Kontinuität. Und für die Euro-Gruppe ist dies eine Überlebensbedingung.

Die Wirtschafts- und Währungsunion erfordert die Politische Union, so viel war von Anfang an gewiss. Das wurde leider gerade auch in Deutschland zu lange vergessen. Jetzt muss alles versucht werden, dass auch diese Europakrise in einen Prozess mündet, der der Idee (und Notwendigkeit) eines einigen Europas am Ende neuen Schub gibt, mit einer europäischen Öffentlichkeit in der Euro-Gruppe, in der in zentralen Grundfragen alle vom gleichen Geist erfüllt werden und in allen Zungen sprechen und einander verstehen und einig werden darüber, was nun geschehen soll. Das mag heute noch sehr utopisch klingen – es gehört aber zur geschichtlichen Verantwortung Deutschlands, dass es endlich zur Sprache kommt und Wirklichkeit wird! Wir Deutsche sollten uns mit Mut und Selbstbewusstsein für den Euro und eine Europäische Soziale Marktwirtschaft in der Politischen Union engagieren!

IX.

Meine Damen und Herren,

zu den vielen Qualitäten von Alexander Rüstow zählte auch: Er hatte Humor. Wenn er sprach, verzeichnete das Protokoll häufig: „Heiterkeit“.

Das realistische Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft hat er so beschrieben: Der Mensch sei ein sehr gemischtes Wesen, nie ganz gut und nie ganz schlecht. Der Mensch stamme eigentlich „vom Zebra ab: wegen der schwarzen und weißen Streifen“.

Gute Politik appelliert an die weißen Streifen in uns und sorgt für einen Ordnungsrahmen, der es den Menschen nahelegt und leichter macht, sich in aller Freiheit für ihre weißen Streifen zu entscheiden.

Lassen Sie uns in diesem Sinne weiter daran arbeiten, die Welt aufzuhellen! Herzlichen Dank!